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Ausgabe:

Oktober/2006

Spalte:

1079–1081

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Friedrich, Markus:

Titel/Untertitel:

Die Grenzen der Vernunft. Theologie, Philosophie und gelehrte Konflikte am Beispiel des Helmstedter Hofmannstreits und seiner Wirkungen auf das Luthertum um 1600.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004. 440 S. gr.8° = Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 69. Kart. Euro 56,00. ISBN 3-525-36062-2.

Rezensent:

Inge Mager

Die zu besprechende Untersuchung ist im Wintersemester 2001/02 von der Philosophischen Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen worden. Sie spiegelt nicht nur in materialer und methodischer Hinsicht die vielfältigen Forschungsbemühungen um die lange vernachlässigte Frühorthodoxie im ausgehenden 16. und frühen 17. Jh. der letzten 30 Jahre wider, sondern sie ist zugleich ein Zeugnis gelungener Interdisziplinarität. Das gilt es besonders hervorzuheben, handelt es sich doch bei dem hier umfassend analysierten Streit des Helmstedter Theologen Daniel Hofmann (1540­1611) mit den dortigen Philosophen bezüglich des Verhältnisses von Theologie und Philosophie samt dessen Ausläufern und auswärtigen Fortsetzungen um einen theologiegeschichtlich höchst vielschichtigen Konflikt, dessen Bedeutsamkeit für das neuzeitliche Denken nicht unterschätzt werden darf. Dabei hat der Vf. sich in Ergänzung der bisherigen Forschung, die sich auf die inhaltliche Rekonstruktion des Streitherganges konzentrierte, mit bewundernswertem Spürsinn auch um das Phänomen des Streitens selbst bemüht und versucht, dessen Vieldimensionalität in personeller, mentaler, sozialer und politischer Hinsicht mit zu erhellen. Auch hat er dankenswerterweise über das bisher zu Grunde gelegte gedruckte Material hinaus die vornehmlich in Wolfenbüttel, Hannover, Magdeburg und Wittenberg verstreute archivalische Überlieferung mit verarbeitet.

Um dem Anliegen der Vieldimensionalität gerecht zu werden, wählt er einen doppelten Durchgang: In den ersten drei Kapiteln (19­221) sind die beiden zeitlich etwas versetzten Lehrkonflikte zwischen Daniel Hofmann und Wenzel Schilling mit den Helmstädter Philosophen (vor allem Cornelius Martini und Johannes Caselius) sowie die Auseinandersetzungen zwischen Magdeburger Theologen (vor allem Johann Angelius Werdenhagen, Andreas Cramer) und Pädagogen (Wolfgang Ratke, Sigismund Evenius) untereinander wie mit Wittenberger Theologen (am Rande Balthasar Meisner) und Philosophen (vor allem Jakob Martini) um den habitus-Begriff im Theologieverständnis ereignisgeschichtlich sehr umsichtig, jedoch noch unter weitgehender Aussparung der thematischen Diskussionen dargestellt. Die nachvollziehbar dokumentierten genetischen, sowohl personellen als auch inhaltlichen, wenngleich weiterentwickelten Zusammenhänge zwischen den Helmstedter und den Magdeburger Kontroversen sind gegenüber der bisherigen Forschung neu. Sie bringen Licht in die insgesamt noch wenig erhellte Zone der geistigen und geistlichen Beziehungsgeflechte um 1600 und regen zu weiteren Recherchen an.

So wäre z. B., um nur einen Faden aufzugreifen, der auf S. 217 gemachten Mitteilung von einem im Jahre 1600/01 nach Magdeburg gelangten Manuskript eines Göttinger Pfarrers zu Gunsten der Helmstedter Philosophen weiter nachzugehen. Neben Andreas Schlüter könnte es sich nämlich ebensogut um den Göttinger Pfarrer Zacharias Kempe handeln, der eine Herzog Heinrich Julius gewidmete Militia Christiana als Apologie für seinen Studienfreund Caselius geschrieben hat, wie dieser in dem gedruckten lateinischen Trauergedicht auf Kempe (Ý 1600) dankbar erwähnt (vgl. Karl Heinz Thiel, Des Helmstedter Philosophieprofessors Johannes Caselius Dokumentation einer lebenslangen Freundschaft mit dem Göttinger Pfarrherrn Zacharias Kempe, in: JGNKG 99 [2001], 179). Der Druck in Magdeburg könnte am herzoglichen Einspruch gescheitert sein. Der Text, sollte er sich noch irgendwo auffinden lassen, wäre ein interessantes Beispiel für das zunächst ganz persönlich motivierte Eintreten eines streng orthodoxen Theologen für einen humanistischen Philosophen. Kempes Argumentation im Einzelnen wäre von unschätzbarem Wert und könnte abermals die vom Vf. dieser Arbeit wiederholte Warnung vor der Annahme allzu homogener Gruppen und Fraktionen unter den Theologen um 1600 bekräftigen.

In den Kapiteln 4­7 (222­377) zeichnet der Vf. die in den verschiedenen Kontroversen in Helmstedt, Magdeburg und Wittenberg ausgetauschten Argumente samt den hinter ihnen stehenden Traditionen kundig nach. Erhellend erscheint mir die gleich eingangs gemachte Beobachtung, dass die Reflexion über die Natur des Menschen vor Ausbruch des Hofmannstreits (1598) überwiegend soteriologisch ausgerichtet und auf die Rolle des Willens unter den Bedingungen der Erbsünde fixiert gewesen sei, ohne die Frage der natürlichen Gotteserkenntnis ernsthaft zu bedenken. Auf dieses Versäumnis habe Hofmann angesichts der Wiederbelebung der Metaphysik durch Cornelius Martini in Helmstedt mit seiner an Tertullian angelehnten überspitzten Einschätzung von Philosophen als »Patriarchen der Häretiker« aufmerksam machen und durch die These von der doppelten Wahrheit in Philosophie und Theologie ein Plädoyer für glaubenszentriertes Theologietreiben wiedergeborener Theologen liefern wollen. In Magdeburg ­ vor allem im Habitualstreit (1622 ff.) ­ seien die Ansätze Hofmanns dann bis in die Nähe des an Johann Arndt erinnernden, aber zugleich spiritualistische Anliegen aufnehmenden Wahren Christentums weiterentwickelt worden. Der Vf. wertet diesen Vorgang als »präzisierte Neuformulierung« des um 1600 in Helmstedt Aufgebrochenen und als »Gegenmodell zur allmählich dominanter werdenden akademischen Universitätstheologie« (331). Im Unterschied dazu stritten die Helmstedter und Wittenberger Gegner der Philosophieskeptiker auf Grund eines neuen Verständnisses von Gottebenbildlichkeit und Erbsünde für eine »sapiens atque eloquens pietas« und bereiteten ein Denken vor, das dann in Helmstedt unter Georg Calixt nochmals eine Sonderprägung erfuhr.

Im 8. Kapitel (378­396) wendet sich der Vf. gesondert dem Phänomen des gelehrten Streitens selbst zu, um am Ende vier sich aus der Streituntersuchung ergebende Voraussetzungen altlutherisch-orthodoxen Selbstverständnisses zu benennen: bedingtes Vertrauen auf die Fähigkeiten der menschlichen Vernunft, Ausbildung der Theologie als Wissenschaft, Verbleib der Theologie innerhalb der späthumanistischen Gelehrtenrepublick, Koalition von Staat und Kirche. Wichtig erscheint mir auch die durch die beschriebenen Vorgänge bestätigte Beobachtung, dass die lutherische Orthodoxie sich parallel zur Kritik an ihr durch die Frömmigkeitstheologie des Frühpietismus entwickelt hat, Letztere also nicht eine Folge der Ersteren darstellt, wie häufig behauptet wird. Denn beide tragen gleichermaßen Krisenmomente in sich.

Am Ende dieser sehr zu lobenden, forschungsfördernden Arbeit seien als Zeichen aufmerksamen Lesens ein paar ergänzende Randnotizen und Korrekturen erlaubt.

Daniel Hofmann, eine der Hauptpersonen in dieser Arbeit, gewinnt, auch wenn man alle verstreuten Mitteilungen über ihn als Mensch und Theologe zusammensetzt, doch keine klaren Konturen. Es wird nicht einmal deutlich, wann, wie und weshalb er von der philosophischen in die theologische Fakultät überwechselte; das Porträt auf S. 22 ist zu knapp. Hofmann verdiente überhaupt einmal eine gesonderte Würdigung. ­ Den mehrfach in der Arbeit hervorgehobenen Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Hofmann, Johann Arndt und Cramer ist zuzustimmen. Die räumliche und zeitliche Nähe Arndts als Braunschweiger Pfarrer (1599­1608) zum Hofmannstreit hätte dennoch eine Erwähnung verdient, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil Arndt 1605/06 nach der fehlerhaften Frankfurter Erstveröffentlichung des 1. Buches von Wahrem Christentum eine Neuausgabe in Helmstedt plante, die aber aus bisher unbekannten Gründen nicht zu Stande kam. Dürfte der Hofmannstreit dabei eine Rolle gespielt haben? ­ 189, Anm. 52: Die von Voigt behaupteten »Synkretistischen Streitigkeiten« in Quedlinburg könnten mit den innerkirchlichen Unzuträglichkeiten zusammenhängen, die schon Arndt 1599 zum Weggang von dort zwangen. ­ 180: Cramer ist möglicherweise in Quedlinburg mit Gedanken Arndts, der dort bis 1599 gewirkt hatte, in Berührung gekommen. ­ 21: nach Herzog Julius¹ Tod. ­ 63, Anm. 216 im Text: ungenaue Übersetzung. ­ 64: Kloster Amelungsborn gehörte zum Fürstentum (nicht Herzogtum! vgl. 12) Braunschweig-Wolfenbüttel und kam erst 1942 zur Hannoverschen Landeskirche. ­ 68, Anm. 250: Georg Calixt (1586­1656). ­ 252: wolfenbüttelsche Prinzessin.

Angesichts der vielen Stärken dieses wichtigen, anregenden und weiterführenden Buches fallen die wenigen Versehen jedoch kaum ins Gewicht.