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Ausgabe:

Oktober/2006

Spalte:

1076–1078

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Ohno, Christine:

Titel/Untertitel:

Die semiotische Theorie der Pariser Schule.

Verlag:

2 Bde. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003. Bd. 1: Ihre Grundlegung und ihre Entfaltungsmöglichkeiten. 476 S. m. Abb. gr.8°. Kart. Euro 49,80. ISBN 3-8260-2423-0. Bd. 2: Synkretistische Semiotik. Interpretationen zu Karikatur, Bildergeschichte und Comic nach der Zeichentheorie der Pariser Schule. 307 S. u. 32 Abb. im Anhang. gr.8°. Kart. Euro 35,00. ISBN 3-8260-2522-9.

Rezensent:

Wilfried Engemann

Wie stark sich die Semiotik in den letzten 20 Jahren in der Theologie etabliert hat, zeigt sich u. a. daran, dass mittlerweile in fast allen theologischen Disziplinen selbstverständlich auf semiotische Argumentationsmuster zurückgegriffen wird. Der entscheidende Grund hierfür ist wohl in der Plausibilität der scheinbar einfachen Tatsache zu sehen, dass Verständigung auch im Kontext von Theologie und Kirche auf der Basis von Zeichen erfolgt. Sämtliche denkbaren Kommunikationsprozesse ­ auch die Kommunikation des Evangeliums ­ sind Interpretationsprozesse, wobei sich der Begriff der »Interpretation« nicht nur auf rationale Erkenntnisprozesse, sondern u. a. auch auf emotionale Wirkungen bezieht.

Der Dialog zwischen Theologie und Semiotik hatte zunächst einen starken Bezug auf exegetische (vgl. z. B. die seit 1969 erscheinende Reihe Linguistica Biblica) und liturgische Fragen (vgl. G. Schiwy u. a.: Zeichen im Gottesdienst, München 1976)­ und war in starkem Maße von der Pariser Schule, vor allem von deren Protagonisten A. J. Greimas sowie von J. Courtés, J.-M. Floch, E. Landowski, L. Panier, F. Thürlemann, geprägt. Auch später haben wichtige Einsichten Algirdas J. Greimas¹ und seiner Mitarbeiter bzw. Schüler insbesondere den praktisch-theologischen Diskurs bestimmt. Dabei ging es z. B. um die »semantische Struktur« eines Gottesdienstes, um »semantische Oppositionen« in Predigten, um die »semantische Analyse elementarer Strukturen« in biblischen Texten, überhaupt um das Verständnis von »Codes« als »Relation« eines beliebigen »term-objet« mit einem anderen und anderes mehr. Von daher ist das von Christine Ohno vorgelegte Buch ­ auch wenn es sich die Chance entgehen lässt, die Rezeption der Pariser Schule wenigstens ansatzweise in den Blick zu bekommen ­ eine Art Spurensicherung: Es macht nicht nur deutlich, in welch hohem Maße sich die semiotische Forschung den Anregungen Algirdas J. Greimas¹ und den Vertretern der von ihm begründeten Schule verdankt; die systematische Aufarbeitung dieser semiotischen Ideen- und Praxisgeschichte führt zugleich präzise an noch unbeachtete Anknüpfungspunkte des interdisziplinären Dialogs heran.

Ganz abgesehen davon ist eine ebenso gründliche wie kritische Gesamtdarstellung, wie sie hier vorgelegt wird, auch für den inner-semiotischen Diskurs von außerordentlicher Bedeutung. Das gilt insbesondere für den ersten Band: Die Vfn. setzt­ nach einer Einordnung der Pariser Schule in eine brillant dokumentierte semiotische Forschungsgeschichte (angefangen im vorklassischen Griechenland bis hin zum objektiven Idealismus Hegels) ­ mit einer Darstellung und Analyse der Urkunde der Pariser Schule, der Sémantique structurale von Greimas, ein. Ausgehend von der Rekonstruktion einer »semiotischen Standardtheorie« kommt die Vfn. zu einer eigenen, »erweiterten Theorie«, in der sie versucht, Schwachstellen des Theoriemodells ­ insbesondere die Beschreibung der elementaren Struktur oppositioneller Bedeutungen betreffend ­ zu überwinden. Mit Bezug auf Hegel erörtert die Vfn. ein Verfahren, das sich (besser als das von Greimas) für eine sinnvolle Interpretation jedes denkbaren semiotischen Objekts eignen könnte.

Algirdas J. Greimas sah die entscheidende Leistung seiner Semiotik in der Herausarbeitung von Werten semiotischer Relationen, also z. B. auch der Wertvorstellungen bestimmter Texte. (Auch deshalb war er wohl für Theologen ein besonderes interessanter Gesprächspartner.) Freilich hat Greimas selbst keine Wertephilosophie erarbeitet. Von daher ist es ein besonderes Verdienst der Vfn., anknüpfend an den entsprechenden Vorüberlegungen Greimas¹ eine Axiologie zu skizzieren, in dem »die Horizontale des Profanen und die Vertikale des Spirituellen« eine entscheidende Rolle spielen. Was das heißt, wird paradigmatisch an Kafkas Turmbauerzählung demonstriert, wobei die Vfn. zunächst die so genannte »Primärbedeutung« der Erzählung analysiert und dann die biblischen Bezüge sowie die soziologische, die individuell-psychologische, die figurative sowie thematisch-abstrakte Dimension des Textes (und die Bedingungen der Werte dieser Dimensionen) in den Blick nimmt.

Der zweite Band hat seinen Schwerpunkt in der Behandlung »visueller Texte« wie Bilder(geschichten), Karikaturen und Comics. Die Vfn. versucht, »parallel zum linguistischen Instrumentarium, das die Interpretation verbal-sprachlicher Texte gestattet, ein Instrumentarium technischer Begriffe auszuarbeiten, die die Interpretation im visuellen Bereich ermöglichen« (8). Dabei glaubt die Vfn. einen »Synkretismus figurativer Elemente« ausmachen zu können; »synkretistisch« ist bzw. wird ein wahrgenommenes Objekt dann, wenn in ihm gewissermaßen unterschiedliche ðÄsthetikenÐ bzw. Künste zur Geltung kommen, wenn ­ wie bei einem Film ­ mehrere Gestalten einer Botschaft (sprachliche, nonverbale, mimetische, proxemische usw.) gleichzeitig semantisch gebändigt werden müssen, wenn also ein und dasselbe Objekt der Wahrnehmung unterschiedliche Interpretationsmuster erfordert, die jedoch nach einem einheitlichen Code produziert worden sind.

Die semantische Analyse, mit der sich die Vfn. dem Phänomen der Karikatur nähert, ist mit wenigen Einschränkungen auch für die komplexe Analyse von Ikonen von Belang. Ebenso laden die präzisen Untersuchungen zur strukturellen Semantik von Bildergeschichten dazu ein, beispielsweise einmal die ­ in der Geschichte des Christentums reichlich dargestellten ­ Szenen aus dem Leben Jesu bzw. die an vielen Kirchenemporen und Altarflügeln angebrachten »Leidensgeschichten« theologisch zu dechiffrieren. Der wichtigste Teil des zweiten Bandes dürfte aber wohl dessen erstes, mehr als 100 Seiten umfassendes Kapitel sein, in dem die Vfn. die Grundzüge einer allgemeinen Ästhetik entwirft. Dieses Kapitel ist insofern von besonderem Gewinn, als es der Vfn. gelingt, de facto das gesamte Potential menschlicher Kommunikation zu berücksichtigen und im Blick auf seine ästhetischen Dimensionen zu durchleuchten. Hier erweist sich die Vfn. sowohl als Theoretikerin wie als praxisbewusste semiotische Forscherin.

Als ein Mangel dieser beiden Bände könnte sich erweisen, dass die Vfn. sich sprachlich fast ausschließlich im Elfenbeinturm einer semiotischen Elite bewegt. Wer die beiden Bände aus einer gewissen Neugier an der Semiotik oder gar als Einstieg in die Materie lesen will, wird es sehr schwer haben, der Vfn. zu folgen, obwohl sie sich eigens um eine Grundlegung bemüht. Das Verständnis der z. T. schwierigen Fachbegriffe der Sémantique structurale wird vorausgesetzt. Die jahrelange Beschäftigung mit den komplexen Fragestellungen zu einer Welt voller Texte ­ und zu Texten voller Welten ­ hat zu einer ausgesprochen ðinkursiven SchreibeÐ geführt, was, gemessen an der Absicht des Buches, den semiotischen Diskurs neu befruchten zu wollen, zu bedauern ist.