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Ausgabe:

Oktober/2006

Spalte:

1074–1076

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Jensen, Robin Margaret:

Titel/Untertitel:

The Substance of Things Seen. Art, Faith, and the Christian Community.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2004. XII, 152 S. m. Abb. gr.8° = The Calvin Institute of Christian Worship Liturgical Studies Series. Kart. US$ 16,00. ISBN 0-8028-2796-9.

Rezensent:

Thomas Erne

Robin Jensen lehrt Geschichte der christlichen Kunst und Liturgie an der protestantischen Vanderbilt Divinity School in Nashville, Tennessee. Ihr Buch »The Substance of Things Seen« vereinigt sechs Essays zum Verhältnis von Kirche, Architektur und Bildender Kunst. Dem Band liegen sechs öffentliche Vorlesungen zu Grunde, die J. im Jahr 2000 an der katholischen John Caroll University in Cleveland hielt. Im Vorwort legt sie ihre Ausgangssituation dar. Dabei zeigt sich, dass die Probleme einer protestantischen Religionsästhetik diesseits wie jenseits des Atlantiks ähnlich gelagert sind. Kirche und Kunst gehen in der Moderne getrennte Wege, zum Schaden beider. Eine Kirche, die auf die Kunst verzichtet, falls das überhaupt möglich ist, wird »monton und irrelevant«, denn die Kultur, in der sie arbeitet, ist gesättigt ist mit Bildern, Musik und Drama (vgl. X).

Was kann da die Kunst für die Kirche leisten? Knapp und auf eine Formel gebracht: Sie leistet eine »spiritual formation« (17). Kunst kommt nicht als Medium der Darstellung und Mitteilung des religiösen Bewusstseins wie bei Schleiermacher in den Blick, sondern ­ und das scheint ein Charakteristikum amerikanischer Religionsästhetik zu sein (vgl. M. Nicol) ­ als eine verändernde Kraft, eine performing art. Das Ziel der Kunstbetrachtung ­ Paradigma sind vor allem Bilder und Illustrationen der christlichen Kunst des frühen und späten Mittelalters ­ ist nicht das Werk, sondern der Vorgang, den das Werk im Betrachter auslöst. Kunstwerke sind Anleitungen zur spirituellen Selbsterfahrung. Die äußere Erscheinung ist nur der Anlass, der die Phantasie des Betrachters affiziert und irritiert, sofern das, was er sieht, mit den vertrauten Schemata seiner bisherigen Sichtweisen nicht kongruent ist. Irritation des Gewohnten aber tut der Imagination gut. Sie wird durch den Entzug der Kenntlichkeit zum Arbeiten animiert. Das Resultat ist Veränderung. Ein »changed viewpoint« (21), der zugleich ein »change of the viewer«, eine tief greifende, Sinne und Leib ­ »somatic knowledge« (12) ­ umfassende Formgebung des Wahrnehmenden. Der Leitsatz dieser Religionsästhetik lautet: Etwas zu sehen bedeutet geprägt, geformt und verändert zu werden. »Seeing (in its broadest and deepest sense) imprints us and changes us.« (10) Fasziniert von Plotin und der christlichen Rezeption des Neuplatonismus durch Augustin (vgl. 6 ff.) setzt J. gleichwohl einen anderen, rezeptionsästhetischen Akzent. Es ist nicht das Kunstwerk, das in seiner Harmonie am Sein partizipiert und den Betrachter aus seiner Leibgebundenheit herausreißt und in die exstasis mentis treibt. Es ist der Betrachter ­ sein »make believe« (21) ­, der formgebend an sich arbeitet. »We are not changed by a work of art as if it had an independent existence or power apart from our engagement of it« (22). Ohne die Bereitschaft sich zu verändern, ohne aktive Beteiligung am Zustandekommen der ästhetischen Erfahrung und ihrer weiteren Wirkung gibt es keine Teilhabe an einer tieferen Realität, »the viewers both take responsibility for bringing the experience to birth and for its subsequent life in the world« (25).

Der Werkbegriff wird damit zwar nicht vollständig obsolet, aber doch so relativiert, dass Kunst alles sein kann, was einen Betrachter engagiert, sofern es demonstrativ, in sich zweckhaft und irritierend ist: »Often the thing that is offered to us as ðbeautifulÐ might baffle or confuse us.« (10) Deshalb bedarf Kunstwahrnehmung der Schulung, auch einer gewissen Risikobereitschaft (vgl. 19), weil sonst der Wahrnehmungsprozess im Sekundären einer mimetischen Imitation, der »Fashion«, stecken bleibt (vgl. 20).

Wie denkt nun J. das Verhältnis von ästhetischer zu religiöser Erfahrung? Auch hier steht Augustin Pate. Da ästhetische Erfahrung am Objekt haftet, also immer in Gefahr steht, das Symbol mit der transzendenten Realität zu verwechseln, bedarf es einer Fortsetzung der Bewegung, die durch die Kunst angestoßen wird, vom Besondern zum Allgemeinen hin zum Ideal, zu Gott, der »ultimate source of that beauty« (8). Erst in diesem Dreischritt ist ästhetische Transformation des Selbst vor Idolatrie bewahrt (vgl. 9). Insofern ist die Kunst nicht nur ein Weg »of expressing, exploring, forming and challenging faith«. Wird der Weg konsequent zu Ende gegangen, ist er auch ein »medium of divine self-relevation« (IX). Der komplette Kreislauf, the full circle, von der affizierten Imagination bis zur Partizipation an der »eternal and transcendent truth« (48), führt vom Materiellen zum Immateriellen, vom Symbol in eine »divine presence« jenseits der Zeichen. Das Ziel ist »to be led upward from the image to the truth« (73). Und dieser gesamte Zusammenhang von »spiritual formation« und »ultimate source of that beauty« ist letztlich ein pneumatologischer Vorgang. Durch ein Kunstwerk angesprochen zu werden ist kein Zufall, sondern ein Werk des Geistes, der will, dass wir mit dem Göttlichen in Kontakt kommen, damit es sich in der Transformation unseres Selbst offenbaren kann: »The inspiration is a gift of the Spirit, and we are meant to attend to it Š and engage with the divine« (14).

Vor diesem Hintergrund entfaltet J. fünf Themenkreise. Von besonderem Interesse für europäische Leser ist ihre These zur »Visual Exegesis« (Kapitel 2), nicht nur weil sie eine Rehabilitation des vierfachen Schriftsinns unternimmt, sondern weil der Blick auf die Illustrationen von Bibeltexten ­ ein Thema mit dem sich sonst nur noch die Experten von Kinderbibeln beschäftigen ­ die Bedeutung der szenischen Imagination für die Auslegung und Weitergabe biblischer Texte freilegt. Bilder sind Deutungen, die biblische Texte einem Unbestimmtheitsrisiko aussetzen und so eine erneute Aneignung ihrer Gehalte unter Bedingungen einer fortschreitenden Gegenwart ermöglichen.

Im Kapitel 3 über Ikonoklasmus ist die Deutung der orthodoxen Ikonen bemerkenswert. Auch hier bleibt J. ihrem rezeptionsästhetisch gewendeten Neuplatonismus treu und versteht Ikonen nicht als bildliche Präsenz des Heiligen, sondern als »aids for meditation« (72), die im Vollzug ihrer Aneignung durch den Betrachter zurücktreten und den Blick freigeben für eine Wahrheit jenseits der Zeichen. Man könnte vom einem Ikonoklasmus im Vollzug der Aneignung sprechen. Das Zeichen muss negiert werden, um seinen zeichentranszendenten Sinn freizugeben.

Im Kapitel 4 entfaltet J. eine Typologie des Kunstgebrauchs in der Kirche, die für die gegenwärtige Frage nach der Synästhesie des Gottesdienstes aufschlussreich ist. Die historische Rekonstruktion des dekorativen und didaktischen Gebrauchs der Kunst im Gottesdienst profiliert einen neuen Typ, die abstrakte Kunst der Moderne als »aid to devotion« (90). Die Selbstreferentialität der abstrakten Kunst der Moderne ist für J. eine Einladung zur Kontemplation, weil diese Kunst alle realistischen Bezüge eliminiert.

Ein Höhepunkt des Bandes ist die dichte Beschreibung des Kirchenraums in Kapitel 5 als begehbare Skulptur und Metapher für das Selbst in Anlehnung an Gaston Bachelard.

Dass die Fundierung der Religionsästhetik in einer Wahrnehmungspraxis auch seine Schattenseiten hat, zeigt das letzte Kapitel 6. Die Frage nach Kriterien für gute und schlechte Kunst im Raum der Kirche, ein Problem, mit dem die Kunstbeauftragten der Landeskirchen täglich zu kämpfen haben, lässt sich im Rahmen der Theorienanlage von J. nur mit dem Hinweis beantworten, dass alles akzeptabel sei, was den Betrachter inspiriert »in some way to greater love and compassion for the world in which we live« (152). Wenn das Werk nur noch eine Hilfe zur Kontemplation ist, dann muss der Weg, den der Einzelne mit der Kunst geht, über die Wahrheit der Kunst entscheiden.

Der Band ist in der Mischung von Anekdoten, historischen Exkursen, genauen Beobachtungen und Reflexionen angenehm zu lesen. J. wird ihrem eigenen Ansatz auch in der Darstellung ihrer Einsichten gerecht. Sie inspiriert die Imagination des Lesers wie auch seinen Verstand. Vielleicht ist es kein Zufall, dass der provokante Titel im Buch überhaupt nicht vorkommt, geschweige denn erläutert wird. Eine Vorlesungsreihe, die Theologiestudenten vom Wert der Kunst für Kirche überzeugen will, ist zwar nicht der Ort für ausführliche Prolegomena. Aber eine knappe Begründung, die für die Annahme einer Substanz spricht, in der Wahrnehmung fundiert sein soll, wäre hilfreich gewesen. So entsteht der Eindruck, es handele sich bei der »Substance of Things Seen« um eine zeichentranszendente Realität des Göttlichen ­ die »divine presence« im Schönen, Guten und Wahren ­, die zu begründen durch den Hinweis nicht erledigt ist, man müsse sich nur auf den Weg machen, dann werde man sie schon erfahren.