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Ausgabe:

Oktober/2006

Spalte:

1072 f

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Fermor, Gotthard, u. Harald Schroeter-Wittke [Hrsg.]:

Titel/Untertitel:

Kirchenmusik als religiöse Praxis. Praktisch-theologisches Handbuch zur Kirchenmusik.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2005 (2. Aufl. 2006). 284 S. gr.8°. Kart. Euro 24,00. ISBN 3-374-02304-5.

Rezensent:

Joachim Stalmann

Ein Handbuch als Sammelband: 47 Kapitel von 51 Autorinnen und Autoren. 37 aus der Theologie, 14 aus der (Kirchen-)Musik bzw. Musikpädagogik, fünf davon offenbar beiderseits zu Hause. Erstaunlich unbefangen nimmt hier Theologie musikalische bzw. musikwissenschaftliche Kompetenz in Anspruch. Im 16. und 17. Jh. durchliefen Theologen und Kantoren ein und dieselbe Ausbildung, konnten beide Berufe ausüben. Heute ist das die Ausnahme ­ erst recht ein Theologieprofessor, der über Improvisation schreibt und sich dabei als Jazzpianist outen kann (das traditionsreiche Feld der Orgelimprovisation aber nur beiläufig im Blick hat).

Nur im Inhaltsverzeichnis wird diese bunte Folge untergegliedert: in zwei Buchteile, deren Zweiter nochmals fünffach unterteilt ist. Teil 1: Kirchenmusik als religiöse Praxis; Teil 2: Kirchenmusik als (sic!) Praktische Theologie. An den vorgegebenen Dreischritt ­ 1. Bestandsaufnahme, kulturwissenschaftlich und theologisch, 2. Problemanzeige, 3. Zukunftsmusik (vgl. das Vorwort) ­ halten sich nicht alle Beiträge. Die meisten sind reichlich kurz geraten. Das erleichtert die Lektüre, erschwert aber tieferes Eindringen in die Themenfelder.

Der erste Hauptteil beansprucht weniger als ein Viertel des Buches und beleuchtet sehr unterschiedliche Aspekte von Musik als »religiöser Praxis« in einer nicht immer einleuchtenden Zuordnung: Hören und Singen (was ist primär?); Komposition und Improvisation (ist diese nicht älter, elementarer als jene?); Rhetorik als Organisation musikalischer Sprache; dann Elemente wie Klang, Rhythmus, »Harmonik und Melodik« (Melodik und Harmonik?); Arrangement (gehörte sachlich hinter Improvisation und Komposition); schließlich Atmosphäre und »Geräusch der Stille« (wie unterscheiden sich denn Klang und Geräusch?). Gerade im Teil 1 hätte man sich mehr musikwissenschaftliche Beiträge gewünscht, wohl auch etwas weniger theologischen Diskurs. Beispiel: »Von einem aus theologischer Sicht angemessenen gleichberechtigten Nebeneinander konsonanter und dissonanter Harmonik und Melodik ist die gegenwärtige Kirchenmusik Š weit entfernt« (53). Jede Musik lebt bekanntlich von dem ­ mehr oder weniger ausgewogenen ­ Wechselspiel von Dissonanz und Konsonanz, alte wie neue Kirchenmusik.

Der Hauptteil 2 versteht »Kirchenmusik als Praktische Theologie«. Ist das nicht Vereinnahmung der Musik durch die Theologie? Gewiss: Jeder Christ, nicht zuletzt der musizierende, ist ein seinen Glauben reflektierender Theologe. Ebenso gewiss hat Kirchenmusik teil an Verkündigung. Der evangelische »Urkantor« Johann Walter (1496­1570) ­ er kommt seltsamerweise in diesem Handbuch gar nicht vor ­ bestimmte das Verhältnis von Musik und Theologie als das von »Schwestern«: »Er hat sie beid¹ in Fried¹ geschmückt, dass kein¹ der andern Ehr verrückt«. Unvermischt und ungetrennt Š Kirchenmusik »ist« nicht Praktische Theologie, auch, wo sie mit theologischer Symbolik spielt. Theologie bedenkt auch Musik, insbesondere »Musik beim Evangelium« (J. Walter), bedarf dabei aber der Konsultation mit musikalischen Fachleuten, wenn sie weder dominieren, noch dilettieren will.

Die fünffache Untergliederung dieses 2. Teils ­ Kirchenmusik in Kontexten, im Verkündigungszusammenhang, als Bildungsarbeit, als Seelsorge und Diakonie und als Kirchenleitung ­ wirkt teilweise etwas künstlich. Die Herausgeber möchten Kirchenmusik in einem breiten Beziehungsgeflecht würdigen (»Kirchenmusik als Š«, »Kirchenmusik und Š«). Da finden sich viele hilfreiche und originelle Erkenntnisse. Teilweise werden allerdings allzu energisch offene Türen eingerannt. Dass etwa auch gegenwärtige populäre Musik Kirchenmusik ist, wird wiederholt so lautstark gefordert, als sei das nicht weithin längst anerkannt und in Arbeit: seit mindestens 45 Jahren, mittlerweile in zweiter Generation, zunehmend auch an den Ausbildungsstätten. Unter den Pionieren sind Profis traditioneller wie populärer Musik, etwa Martin Gotthard Schneider und Rolf Schweizer. Sie haben sich falschen, letztlich unproduktiven Frontstellungen verweigert.

Mir begegnen in diesem »Handbuch« zu oft pauschale oder überzogene Urteile, falsche Alternativen, wo differenzierte Betrachtung angesagt wäre. Beispiel: Musik als »Dienerin der Š Verkündigung« führe »notwendig auch zu einer Verarmung der Melodien und des Gemeindegesangs als solchem« (103, muss heißen »solchen«). Wohl weil die Herausgeber zu wenig Vorgaben hinsichtlich Begriffsbestimmungen und Grundthesen machten, wiederholen und widersprechen sich Beiträge des Öfteren. Ein besonderes Kunststück gelingt dem Beitrag zu »Kirchenmusik und Aszetik«: Er redet von manchem, nur nicht vom Thema (weil es keins ist?).

Vom Lektorat hätte man sich etwas genauere sprachliche und orthographische Überprüfung gewünscht. Ansonsten bekenne ich gern, dass ich aus dem Band viele wertvolle Anregungen, Erfahrungen und Ideen gewonnen habe. Am meisten da, wo Praxiserfahrung und -kompetenz spürbar sind. Das Handbuch ist Klaus Danzeglocke, dem ehemaligen Leiter der Rheinischen Arbeitsstelle für Gottesdienst und Kirchenmusik, gewidmet und erreichte bereits die 2. Auflage. Praktisch-theologische und andere Handbücher geraten m. E. zunehmend in ein Dilemma: Ein Autor hat kaum noch die nötige Übersicht und Detailkenntnis, einundfünfzig können aber ohne klares Gesamtkonzept und straffe Redaktion dem Leser beides auch nur schwer vermitteln.