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Ausgabe:

Oktober/2006

Spalte:

1070–1072

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Troeltsch, Ernst:

Titel/Untertitel:

Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1906/1909/1922).

Verlag:

Hrsg. v. V. Drehsen in Zusammenarbeit m. Ch. Albrecht. Berlin-New York: de Gruyter 2004. XVIII, 646 S. gr.8° = Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe, 7. Lw. Euro 198,00. ISBN 3-11-016341-1.

Rezensent:

Hermann Fischer

Vor genau 100 Jahren, 1906, erschien erstmals ­ etwas versteckt in dem großen, von Paul Hinneberg herausgegebenen Sammelwerk »Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele« ­ T.s Abhandlung »Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit«. Vor gut 80 Jahren, 1922, kam es zu einer letzten (3.) Auflage, einem unveränderten Abdruck der 2. Aufl. von 1909, aber erweitert um einen Nachtrag mit Hinweisen auf inzwischen erschienene Literatur. Diese in ihrer Art glanzvolle Darstellung ist nun als eigener Band innerhalb der Troeltsch-KGA wieder greifbar, in mustergültiger Form historisch-kritisch ediert.

Die Wirkung dieser Arbeit verbindet sich vor allem mit T.s berühmter, die protestantische Geschichtsschreibung und Theologie seiner Zeit herausfordernder und stimulierender These von der wesentlichen Zugehörigkeit der Reformation zum Mittelalter. Die Neuzeit beginnt nicht mit der Reformation, sondern mit der Aufklärung. Der Protestantismus Luthers und seiner Mitstreiter ist als christlich-kirchliche Kulturform »zunächst in seinen wesentlichen Grundzügen und Ausprägungen eine Umformung der mittelalterlichen Idee, und das Unmittelalterliche, Moderne, das in ihm unleugbar enthalten ist, kommt als Modernes erst in Betracht, nachdem diese erste und klassische Form des Protestantismus zerbrochen oder zerfallen war« (1906, 257; hier: 87). Insofern habe die Reformation zu einer gewaltigen 200-jährigen Nachblüte des Mittelalters beigetragen (1906, 265; hier: 111). Unterstützt wurde die Wirkung dieser Abhandlung durch die im gleichen Jahr in der »Historischen Zeitschrift« wie auch separat erschienene kleine Studie »Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt«, in der T. die Reformation in gleicher Weise geschichtlich eingeordnet hatte. Die Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus, von T. nicht erfunden, aber durch breite historische Analysen konkretisiert und in ihrem Sinn präzisiert, bringt diese neue Verhältnisbestimmung auf den Begriff. Mit solcher Deutung der Reformation stieß T. die Zunft vor den Kopf, dies auch deshalb, weil er in der großen Monographie in der Fassung von 1906 vergleichsweise ausführlich auf die mittelalterlichen Grundlagen des Protestantismus eingegangen war (254­266; hier: 83­111), während ihm für das Neue, das die Reformation auch gebracht hatte, drei Seiten genügten (266­269; hier: 111­117). In der zweiten Auflage des Werkes von 1909, dessen Umfang um etwa zwei Drittel angewachsen war, ist T. zu einer differenzierteren Sicht gelangt, ohne freilich seine Grundthese zu verändern.

Diese originelle Konzeption, in der neuen Edition durch die materialreiche »Einleitung« in den damaligen Diskussionshorizont eingebettet und bestens erläutert, kann man sich mit dem vorliegenden Band erneut vergegenwärtigen. Als Herausgeber zeichnet »Volker Drehsen in Zusammenarbeit mit Christian Albrecht«, aber hinsichtlich der geleisteten Arbeit scheint es sich eher umgekehrt zu verhalten. Jedenfalls hat Chr. Albrecht die »Einleitung« (1­38) und den »Editorischen Bericht« (39­80) verfasst und ist inzwischen in das Herausgebergremium der Troeltsch-KGA gewählt worden. Den Editionsprinzipien der Troeltsch-KGA entsprechend wird die Letztfassung von 1922 geboten, die mit der 2. Aufl. von 1909 im Haupttext und im Literaturanhang identisch ist und sich nur durch die 1922 hinzugefügten »Nachträge zum zweiten Abdruck« unterscheidet. Über die Veränderungen gegenüber der ersten Auflage informiert der textkritische Apparat. Die Seitenzahlen der drei Ausgaben sind am Seitenrand notiert und ermöglichen eine bequeme Orientierung. Wie schon in den bisherigen Bänden der Ausgabe besticht auch die vorliegende Edition durch den vorzüglich gearbeiteten Anhang mit informativen Biogrammen, Literaturverzeichnis, Personen- und Sachregister sowie einer Seitenkonkordanz zu den beiden bzw. drei Auflagen des Werkes (541­646).

Dem ursprünglichen Erscheinungsort entsprechend bietet T. in diesem Werk eine auch dem gebildeten und interessierten Laien verständliche Darstellung des Protestantismus von den Anfängen bis zu seiner eigenen Gegenwart. Die Gliederung der Abhandlung intoniert die These. In einem I. Teil kommt »Der Protestantismus in seinem allgemeinen Verhältnis zu Mittelalter und moderner Welt« zur Sprache, ein II. Teil behandelt die »Reformatoren und Reformbewegungen des 16. Jahrhunderts«, Gegenstand des III. Teils ist »Der Altprotestantismus (16. und 17. Jahrhundert)«, der des IV. Teils »Der moderne Protestantismus (18. und 19. Jahrhundert)«. Die Faszination, die noch heute von T.s Darstellung ausgeht, beruht einerseits auf der kulturgeschichtlichen Einbettung der spezifisch kirchen- und theologiegeschichtlichen Entwicklungsprozesse, andererseits auf T.s Fähigkeit, große historische Komplexe nach ihren leitenden Ideen und sozialen Realisierungsformen in den Blick zu bringen. Die Stärke des konzeptionellen Zugriffs impliziert allerdings auch deren Schwäche. T. kennt sich auf einigen Teilgebieten der 400-jährigen Traditionsgeschichte des protestantischen Christentums bestens aus, muss sich aber für weite Strecken auf Sekundärliteratur stützen, berücksichtigt dafür auch in erstaunlichem Umfang englischsprachige Literatur. Im Detail ist seine Darstellung allerdings anfechtbar. Das hat der Wirkung seiner Thesen indes keinen Abbruch getan. Vor allem hat T. dazu beigetragen, die in der protestantischen Theologiegeschichtsschreibung immer wieder ziemlich holzschnittartig vorgetragene These vom Anbruch der Neuzeit mit der Reformation zu differenzieren, also einerseits ein genaueres Bild von den mittelalterlichen Wurzeln der reformatorischen Theologie zu gewinnen, andererseits den geistes- und kulturgeschichtlichen Anstoß für die Entwicklung des neuzeitlichen Bewusstseins, der von der Reformation ausgegangen ist, in seiner Gebrochenheit und Vielschichtigkeit wahrzunehmen. Dass T. für die Stoßkraft der Argumentationen seinerseits entdifferenzierende Deutungsperspektiven in Kauf genommen hat, steht auf einem anderen Blatt. Dazu gehört vor allem die Erschließung des reformatorischen Protestantismus durch die religions- und kultursoziologisch verstandene Kategorie »Kirche« im Gegenüber zum Sektentypus und die daraus gefolgerte Parallelisierung von Katholizismus und altem Protestantismus. Nach T. ist der Katholizismus von der Idee geleitet, »die kirchliche Anstalt als allgemeine Erlösungsanstalt in einer dauernden Welt« zu betrachten und mit der Durchsetzung dieser Anstalt auch »eine einheitliche Beherrschung der übrigen Welt als unumgängliche Voraussetzung und Folge« zum Programm zu erheben. »Diese Kirchenidee dauert fort im Protestantismus, nur ohne Hierarchie, Priestertum und priesterliche Sakramente.« (89 f.) Mit dieser Sicht hat T. erheblichen Verzeichnungen des Verhältnisses von mittelalterlichem Katholizismus und Protestantismus die Bahn geöffnet, die man bis in Thomas Manns Auslassungen über Luther und seine Reformation verfolgen kann. Einschlägig ist dafür besonders sein Roman »Doktor Faustus« und der 1945 gehaltene Vortrag »Deutschland und die Deutschen«.

Diese Verzeichnungen sind inzwischen von der historischen Forschung korrigiert worden, jedoch mit einem geschärften Bewusstsein für die von T. zu Recht aufgedeckten Zusammenhänge zwischen (spät-)mittelalterlicher und reformatorischer Theologie einerseits, für das mehrschichtige Beziehungsverhältnis von Reformation und moderner Welt andererseits. Über die Kirchen- und Theologiegeschichtsschreibung hinaus hat T. mit seiner materialreichen Darstellung des Protestantismus auch der profanhistorischen Forschung neue Perspektiven eröffnet, und man behauptet wohl nicht zuviel mit der Feststellung, dass diese Darstellung des Protestantismus inzwischen in den Rang eines klassischen Werkes eingerückt ist.