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Ausgabe:

April/1998

Spalte:

430–433

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Strohm, Christoph

Titel/Untertitel:

Ethik im frühen Calvinismus. Humanistische Einflüsse, philosophische, juristische und theologische Argumentationen sowie mentalitätsgeschichtliche Aspekte am Beispiel des Calvin-Schülers Lambertus Danaeus.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1996. XXI, 789 S. gr.8° = Arbeiten zur Kirchengeschichte, 65. Lw. DM 298,­. ISBN 3-11-015061-1.

Rezensent:

Joachim Rogge

Mancher mag etwas gegen lange Buchtitel haben, aber im vorliegenden Falle ist angesichts des voluminösen Bandes das viele exakt angegeben, das den Leser erwartet. Es geht zum ersten Mal in der Theologiegeschichte in extenso um eine Würdigung des Beitrages von Lambertus Danaeus zur Erstentwicklung des Calvinismus unmittelbar nach Calvins Lebensausgang, speziell um die Ethik im Lehrgebäude des frühen Reformiertentums in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts.

Der Vf. stellt eindrücklich und mit einer Vielzahl von Belegstellen dar, daß nach langen der Dogmatik zuzurechnenden Klärungen und Auseinandersetzungen die Ethik zur Dominante in der Ausbildung des reformierten Kirchenwesens wurde und welche die Hauptkriterien waren, die dabei Berücksichtigung fanden. Und der Untertitel gibt präzise wieder, welche Einflüsse hierfür zu benennen sind. Auch teilt St. bereits im Untertitel die Kapitelfolge seines Buches mit. Danaeus nimmt in der Nachfolge Calvins die reformatorische Theologie auf, variiert sie jedoch nachhaltig und zum Teil für Jahrhunderte wirksam durch philosophische, juristische, theologische und mentalitätsgeschichtliche Aspekte. Max Weber und Ernst Troeltsch nahmen in unserem Jahrhundert diese Entwicklungsdominanten auf und entwickelten daraus gesellschaftsrelevante Theorien, deren Einfluß allerdings durch die theologischen Fragerichtungen seit den beiden Weltkriegen und durch die Ideologieverhaftungen ganzer Generationen und die theologisch-kirchlichen Antworten darauf in den Hintergrund gedrängt wurde.

St. nimmt also Vergessenes in theologisch-ethischen Fragen mit vordergründigem Anschluß an die beiden genannten soziologisch-philosophisch orientierten Theologen wieder auf, so daß wir nicht nur eine theologiegeschichtlich wertvolle Einzelaufarbeitung, sondern in gewisser Weise eine Programmeröffnung vor uns haben. Der für "Durchsetzung von Ordnung und Disziplin in allen Lebensbereichen" (615), d. h. in Kirche und Gesellschaft, plädierende Danaeus (1530-1595) wirkt an mehreren Orten Frankreichs als theologischer Lehrer und Pfarrer prägend, allerdings nicht einfach als Moralist und Epigone in der dritten Generation der Reformatoren, sondern als literarisch ungemein agiler Wortführer unter Wiederaufnahme philosophischer, juristischer und mentalitätspsychologischer Fragestellung. Die Anknüpfung der zeitgenössischen Humanisten an die klassische Antike wird von ihm ebenso befürwortet wie aufgrund ausführlicher Studien die juristische Observanz für Kirchen- und Gesellschaftsordnung, auch dieses in vieler Hinsicht nach dem Vorbild des großen Meisters in Genf, wo er in dessen letzten Lebensjahren nach seinem Übergang von der Jurisprudenz zur Theologie noch studiert.

Danaeus war eher ein die zeitgeistbezogenen Fragerichtungen Sammelnder als ein innovativer Denker, aber seine zahlreichen Schriften ­ besonders die Ethices libri (157 ff.), die Politica (186 ff.) und die Arbeiten zur Anthropologie, spezifisch das Werk De homine (493 ff.) ­ fanden Beachtung für lange Zeit; und schon deshalb ist eine Aufarbeitung seines Lebenswerkes hochwillkommen. Sie könnte auch zur ethischen Kriterienfindung für Theologie und Kirche in unserer Zeit anregend werden. Daß der Vf. in dieser Richtung Absichten mit seiner Arbeit an den Quellen hat, bekundet er bereits im ersten Satz seiner Einleitung:

"Der Reformation der Lehre, wie sie die ersten Reformatoren im Kampf gegen den ’papistischen Aberglauben’ vollzogen haben, muß jetzt eine Reformation des Lebens folgen! Diese Einschätzung (aus dem Jahre 1596, Zusatz des Rez.) ... ist repräsentativ für das Selbstverständnis vieler Vertreter des Calvinismus. Man betrachtete die lutherische Reformation als unvollkommen, da die ’reformatio doctrinae’ noch nicht durch eine ’reformatio vitae’ ergänzt sei. Den Fragen der christlichen Ethik und ihrer praktischen Verwirklichung im Rahmen der Kirchenzucht wurde darum in der Reformation calvinistischer Prägung von Anfang an besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Calvin sah sich mit einer umfassenden Auflösung traditioneller Autoritätsverhältnisse und Sittlichkeit konfrontiert, die mit dem fortgeschrittenen Umbruch der mittelalterlichen feudalen Ordnung hin zum modernen Territorialstaat verbunden war. Die Generation seiner Schüler und Nachfolger erlebte in den Bürgerkriegen seit den sechziger Jahren die dramatische Zuspitzung dieses Auflösungs- und Umformungsprozesses in Frankreich" (1).

Auf die oben gekennzeichnete Situation wirkt der Jurist und Theologe ­ auch in antiker Philosophie und altkirchlicher Väterlehre hochgebildet ­ ein. St. geht mit vielen Belegen den Tiefenlotungen und zeitgenössischen Breitenkenntnissen von Danaeus nach. Der Schatz des hier Mitgeteilten läßt sich in einer kurzen Rezension nicht angemessen zeigen; sie kann wirklich nur Appetit auf eine Lektüre wecken, die zum Teil wenig oder gar nichts Bekanntes aus den Wirkungsvarianten in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s zutage und dadurch weiteres Nachdenken fördert.

Angesichts der im großen Umfang mitgeteilten Quellen- und Sekundärliteratur (665-689, 691-765), der sorgfältig angelegten Register, vor allem der bis ins einzelne spezifizierten Inhaltsübersicht (IX, XI-XXI) und des immensen Anmerkungsapparates ist jede Art von Weiterarbeit, Vertiefung und Problemerörterung möglich. Das pädagogische Geschick des Vf.s zeigt sich überdies in der Ergebniszusammenfassung nach jedem der fünf Hauptteile und generell am Schluß des Bandes, so daß die Fülle der Details in jedem Falle auf das Wesentliche zusammengezogen erscheint. Diese Art der Konzentration wird vornehmlich bei Nicht-Fachleuten sehr beifällig aufgenommen werden.

In dem Lebenswerk von Danaeus, dessen literarischer Niederschlag in Bibliographie und ausgiebiger Zitation in den Anmerkungen erscheint, wird kaleidoskopartig zusammengetragen, was die Gelehrsamkeit der Zeit und den Entwicklungstrend in Kirche und Gesellschaft damals ausmachte. Es ist höchst anerkennenswert, mit welcher Akribie der Vf. die Vielzahl der Aspekte sortiert, indem er aller Pauschalisierung enträt und den Quellenbefunden nach die Theologie weder in Philosophie noch in Jurisprudenz aufgelöst, sondern ein lebendiges Miteinander von fünf Hauptkomponenten wirksam werden sieht. Die Nähe zu Calvin wird genauso erfaßt wie die relative Aufnahme von Melanchthon, aber auch die Entfernung von Luther, dessen Rechtfertigungs-Theorie und Unterscheidung von Gesetz und Evangelium Danaeus zugunsten einer Neu-Evaluierung des Gesetzes Gottes als Ordnungsfaktor für kirchliches und weltliches Recht weniger berücksichtigt. Hier muß man einfach die Einzelheiten der Distinktionen mit den dazugehörigen Quellenangaben selber verfolgen, um das vorgestellte Koordinatensystem im französisch-schweizerischen Ambiente gerecht zu erfassen.

St. versucht, zusammengefaßt vorzustellen, was in der Forschung bisher in Einzelbezügen schwerpunktmäßig für den frühen Calvinismus herausgearbeitet worden ist. "Das besondere Interesse des Calvinismus an der moralischen Praxis und einer energischen Reformation des sittlichen Lebens ist schon vor Max Weber und Ernst Troeltsch" (2, Anm. 6), aber dann wesentlich durch sie betont worden. Darüber hinaus erkennt der Vf. nun doch für Entstehung und Wirkung des frühen Calvinismus eine Multivalenz von Faktoren, die bisher nur vereinzelt gesehen und dargestellt worden sind. Hauptthema ist ihm dabei "die Begründung der Ethik im frühen Calvinismus" (7). Die "reformierte Konfessionalisierung" (9) hat in Herkunft und Auswirkung ihre spezifischen Aspekte ­ dazu gehört z. B. die "Sozialdisziplinierung" (G. Oestreich u. H. Schilling) ­, die St. der Reihe nach und im Zusammenhang nachweisen und dann zusammenfassend würdigen möchte.

Eben weil Danaeus repräsentativ für die dritte Generation nach den großen reformatorischen Initiatoren ist, kann die Kennzeichnung der "fünf Zusammenhänge" (19) in seinem Lehrsystem Aufschluß geben über eine breitere, auch über seine Lebenszeit hinaus maßgebliche Entwicklung:

1. Wichtig ist zunächst "die Kontinuität von humanistischem und christlichem Moralismus im frühen Calvinismus" (21-78).

2. Ein weiterer Faktor ist die wieder eingeführte "philosophische Terminologie, Problembeschreibung und Systematik". Aristoteles und die Stoa geben der "Tugendlehre einen neuen auf Disziplin und Askese ausgerichteten Charakter" (79-196).

3. "Neben der humanistischen Orientierung" übt "die juristische Ausbildung einen wichtigen Einfluß auf die Konzeption der christlichen Ethik" aus, und dieses in "Auslegung des göttlichen Gesetzes" (197-395). Es geht dabei um die "Darlegung des göttlichen Rechtsanspruchs auf das Leben seiner Geschöpfe insgesamt".

4. Wesentlich ist weiterhin "die systematische Struktur der theologischen Begründung der christlichen Ethik". Das meint konkret das "göttliche Gesetz und das von Gottes Geist konstituierte Subjekt", d. h. den so begabten Menschen (396-539).

5. Beachtung zu finden hat ferner der "tiefgreifende Umbruch traditioneller Autoritätsverhältnisse" und das dadurch hervorgerufene "Krisenbewußtsein", das die Tendenz einer Verinnerlichung und eines anthropozentrischen Ordnungsdenkens förderte". St. faßt dieses Phänomen zusammen mit der Begrifflichkeit "Mentalitätsgeschichtliche Aspekte" (19 f., 540-650).

Vielleicht ist es ein wenig hochgegriffen, aber wohl nicht ganz abwegig, folgendermaßen zu resümieren: Hier wird die geistig-geistliche Konzeption eines Zeitalters ­ zumindest die Spätphase der Reformation im zweiten Teil des 16. Jh.s ­ besichtigt. Ihre alten Fragestellungen sind heute aufs neue neu. Das mit ausgezeichneter Textbefragung im Rahmen einer Habilitationsschrift gezeigt zu haben, ist ein großes Verdienst des Vf.s.