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Ausgabe:

Oktober/2006

Spalte:

1046–1049

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Gane, Roy E.:

Titel/Untertitel:

Cult and Character. Purification Offerings, Day of Atonement, and Theodicy

Verlag:

Winona Lake: Eisenbrauns 2005. XXI, 394 S. m. Abb. gr.8°. Geb. US$ 39,50. ISBN 1-57506

Rezensent:

Henning Graf Reventlow

Dieses seinem Lehrer gewidmete Buch eines Schülers von Jacob Milgrom startet mit einem klar definierten Programm (1.1; 3­24): Rituelle Handlungen haben von sich aus keine Bedeutung; dem Geschehen wird ein Ziel (goal) erst beigelegt. Deshalb ist ein struktureller Ansatz nicht ausreichend; für das jeweilige Ziel sind wir auf die (im biblischen Text niedergelegte) Tradition angewiesen. Eine Systemtheorie (vgl. B. Wilson, Systems, 1984) kann dabei hilfreich sein. Der biblische Text enthält Instruktionen für die Durchführung und Hinweise auf die Deutung.

Der Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der Auslegung des Versöhnungstagsrituals Lev 16, dessen Funktion wenigstens im vorliegenden biblischen Endtext im Rahmen des Systems des chtŒt (Reinigungs-)Rituals zu sehen ist. Dies wird schon in Kapitel 2 (25­42) in Auseinandersetzung mit anderen Deutungen von Lev 16 diskutiert. Abgewiesen werden Aufteilungen in verschiedene Rituale; G. versteht das Kapitel als eine Einheit.

Teil 2 (45­213) enthält eine ausführliche Untersuchung von Reinigungsopfern, die während des Jahresverlaufs veranstaltet werden, gegliedert nach dem Ort ihrer Durchführung. G. wählt diese Bezeichnung statt »Sündopfer«, da sie zur Beseitigung von ritueller Unreinheit wie von Sünden verwandt werden (50).

Kapitel 3 (45­70) behandelt Opfer, die auf einem Altar außerhalb des Heiligtums (outer-altar) dargebracht werden. Beispiele finden sich u. a. in Lev 1­6. Wenn dort nicht ausdrücklich erwähnte Handlungen von anderen Belegen her ergänzt werden, ergeben sich folgende Schritte: 1. Handaufstemmung auf den Kopf des Opfertieres; 2. Schlachtung; 3. Sammlung des Blutes; 4. Darbringung des Blutes zum Altar; 5. Bestreichung der Hörner des Altars mit Blut; 6. Ausgießen des Rest des Blutes an den Fuß des Altars; 7. Abtrennung des Fettes vom Opfertier; 8. Darbringung des Fettes zum Altar; 9. Verbrennen des Fettes auf dem Altar; 10. Verzehren des Fleisches (48.53).

Zur Bedeutung der Handaufstemmung vertritt G. gegenüber gängigen Deutungen eine eigene Theorie (53­59): Normalerweise bedeutet sie eine Übertragung der Schuld des das Opfer darbringenden Individuums auf JHWH. Nur in Lev 16,21 wird mit der Aufstemmung beider Hände die Gesamtschuld des Volkes auf den zu Azazel in die Wüste geschickten Bock übertragen. Das Schlachten selbst ist nur als Vorbereitung der folgenden Schritte wichtig. Das Blut bewirkt die Reinigung, das Fett dient als Gabe an JHWH.

Kapitel 4 (71­90) behandelt Reinigungsopfer im Außenbezirk des Heiligtums: das Opfer eines Stiers für den Hohenpriester (Lev 4,3­12) oder die ganze Gemeinde (Lev 4,13­21). Die Schritte ähneln den vorerwähnten: Hinzukommen 3a) das Verbringen von Blut ins äußere Heiligtum; 3b) das Eintauchen der Finger in Blut und das siebenmalige Versprengen von Blut vor dem (inneren) Vorhang; 8a) das Verbringen der Reste des Opfertieres zu einem reinen Ort außerhalb des Lagers; 8b) das Verbrennen der Reste des Tieres (72). Nach G. geschieht das Blutsprengen nicht an den Vorhang, sondern vor ihm, vor (östlich) dem Räucheraltar (nicht dem inneren Altar) (72­80). Die Ziele dieser Opferhandlungen sind analog zu den vorher dargestellten, nur dass an Stelle der Reinigung der Laien jetzt die Reinigung und die Vergebung für den Priester ein Ziel ist. Die Reste des Opfertieres werden nicht gegessen, sondern verbrannt, weil die Offizianten (die Priester) davon profitieren. Dass dies nicht geschehen darf (außer beim Heilsopfer, das niederen Rang hat), ist eine feste Regel (89). Im Übrigen dient das Reinigungsopfer im äußeren Heiligtum der gemeinschaftsweiten Beseitigung unabsichtlicher Sünden der Opferer.

Kapitel 5 (91­105) entscheidet die Frage, ob das von den Priestern verzehrte Opferfleisch Präbende oder Sühne ist. Antwort: Mit dem Verzehr beteiligen sie sich an der Reinigung (Sühne), nach Lev 10,17b in Teilhabe an JHWHs Werk.

Kapitel 6 (106­143) beantwortet ­ in Auseinandersetzung mit J. Milgroms Auffassung, dass Reinigungsopfer immer das Heiligtum und nie den Opfernden reinigen ­ das Problem, wessen Reinigung durch das Opfer geschieht, in differenzierter Weise: Opferer werden von physischen rituellen Unreinheiten gereinigt und Sündern wird vergeben. Dagegen werden am Versöhnungstag (Lev 16) moralische Vergehen und physische Unreinheiten der Opfernden durch die Reinigung des Heiligtums gereinigt. Der zu Azazel gebrachte Sündenbock ist kein Opfertier (er bleibt am Leben), beseitigt aber die moralischen Sünden der Israeliten insgesamt, indem er sie wegträgt. Ein äußerer Altar wird nur am Tag seiner anfänglichen Weihe durch ein Reinigungsopfer gereinigt. Im Laufe des Jahres auf ihm dargebrachte Opfer reinigen nur den Opfernden, nicht den Altar selbst. Dagegen reinigen Opfer, die im Inneren des Heiligtums dargebracht werden, das Heiligtum und seine heiligen Einrichtungsgegenstände.

Kapitel 7 (144­162) kommt zu dem Schluss, dass nur zwei schwere Vergehen (Versäumnis, die nach Verunreinigung durch einen Toten vorgeschriebene Reinigung zu vollziehen, Num 19,13.20, und Moloch-Opfer, Lev 20,3) das Heiligtum auch von ferne verunreinigen. Für diese Vergehen gibt es keine Reinigung, die Täter verfallen dem crt. Ebenso gilt, dass unabsichtliche Sünden vergeben werden können, trotzige nicht (Kapitel 9, 202­213), wohl einige absichtliche (Lev 5,1.5­6.20­26; 210). Sonst wird das Heiligtum nur verunreinigt, wenn ein Verunreinigter das Heiligtum betritt (Num 19,13). Rituelle Unreinheit verunreinigt es nicht von selbst, Milgroms These von einer Verunreinigung (Miasma) durch die Luft ist nicht haltbar. Die Beobachtung, dass »gesetzlicher« und »biologischer« Zugang zur Sünde miteinander verschlungen sind (160­162), bedarf weiterer Klärung. Hier (und 199­202) wird das nur kurz erwähnt, aber es steht eine breite Problematik dahinter. Eine Andeutung (moralische Vergehen »are violations of YHWH¹s commandments, but the latter arise from a human state of mortality«, 213) müsste genauer expliziert werden.

Kapitel 8 (163­197) stellt die Frage nach der Bedeutung von Blut und der mit Wasser gemischten Asche der roten Kuh (Num 19) als Transportträger von Unreinheit. Blut kann nicht Menschen appliziert werden, weil es bereits die im Opfer übertragene Unreinheit transportiert, wohl aber das Aschwasser, das Reinigung bewirkt. In gemilderter Form überträgt ein Reinigungsopfer Unvollkommenheit von dem Opfernden auf das Heiligtum. Nicht aber reinigt es schon während des Jahres teilweise das Heiligtum. Das geschieht erst am Versöhnungstag durch die dort dargebrachten Opfer.

Teil 3 »Phases of
cpr« (215­241)enthält zunächst zwei Kapitel über den Versöhnungstag. Kapitel 10 (217­241) beschreibt den Ablauf von fünf aufeinander folgenden Opferhandlungen im Heiligtum während dieses Tages.

Kapitel 11 (242­266) beschreibt die Reinigungshandlung mit dem Azazel-Bock. Ausdrücklich wird betont, dass es sich dabei um keinen Opfervorgang handelt. Kapitel 12 (267­284) nimmt noch einmal Milgroms (u. a.) These auf, dass das Blut des Opfers die äußeren Altäre wie am Versöhnungstag die Altäre des Heiligtums gesäubert habe, und wendet ein, dass die biblischen Zeugnisse sie nicht bestätigten. Nur Einweihungen von Altären und die Opfer innerhalb des Heiligtums reinigen diese. Sonst reinigen Reinigungsopfer nur die Opfernden. Für sühnefähige Sünden gibt es zwei Opferphasen: an äußeren Altären für Personen durch das Jahr hindurch, für das Heiligtum einmal im Jahr am Versöhnungstag. Das ist G.s Hauptthese.

Kapitel 13 klassifiziert drei Begriffe für negative Zustände: 1.tm¹jt t sind rituelle Unreinheiten, 2. ps¹js und cht¹jt moralische Verfehlungen (290). Der Versöhnungstag reinigt nur von den cht¹jt (291). psŒ ist eine unvergebbare Sünde (Lev 16,16). Der Zweck des Versöhnungstages ist es, die Gerechtigkeit von JHWHs Herrschaft aufrechtzuerhalten (300­302). Kapitel 14 (305­323) zieht theologische Schlussfolgerungen hinsichtlich des Verhältnisses zwischen JHWHs Gnade und seiner Gerechtigkeit: Es kommt auf die Loyalität des Volkes gegenüber seinem göttlichen König an: JHWH vergibt den Sündern immer wieder im Laufe des Jahres auf Grund der Reinigungsopfer. Am Jahresschluss, beim Versöhnungstag erfolgt eine Scheidung zwischen loyal Gebliebenen und Disloyalen, von denen er sich trennt. Kapitel 15 »Divine Presence and Theodicy« (324­333) folgt Milgroms These, dass Theodizee mit dem israelitischen Opfersystem verbunden ist; JHWHs bleibende Anwesenheit verlangt die Reinigung des Heiligtums von den aufgehäuften Sünden des Volkes. Durch den zweiphasigen Prozess der Versöhnung mit dem fehlerhaften Volk (Einzelopfer während des Jahres, Reinigung des Heiligtums am Jahresende ­ nach Milgrom fiel dieses ursprünglich mit dem Versöhnungstag zusammen, 381) zeigt sich seine Forderung nach Loyalität als Ausgleich zwischen Gnade und Gerechtigkeit.

In Kapitel 16 (334­354) zeigt G. noch Beispiele für das Miteinander von Loyalität und königlicher Herrschaft aus erzählenden Stoffen (Num 14 und den Saul-David-Geschichten) auf. Kapitel 17 (355­378) vergleicht das babylonische Nanshe-Neujahrsfest mit dem israelitischen Versöhnungstag und zeigt bei manchen Parallelen den entscheidenden Unterschied auf: Dort fehlt die Reinigung des Heiligtums.

In der Conclusion findet sich noch eine wichtige Bemerkung: Obwohl G. den biblischen Endtext untersuchte, ergeben sich doch historische Perspektiven, darunter Milgroms These, dass die Rituale des Versöhnungstages schon in vorexilischer Zeit existiert haben können.

Den Band durchzieht eine gut gegliederte, in sich folgerichtige Argumentationskette. Man spürt, dass sie das Ergebnis einer jahrelangen Arbeit darstellt (vgl. die Introduction, XX). Gewichtige Argumente werden gebracht, die für die Bewertung der Bedeutung des israelitischen Kultus Beachtung verdienen. Eine Menge von einschlägiger Sekundärliteratur ist verarbeitet.

Allerdings hat G. ihre Auswertung erheblich erschwert. Das Fehlen einer Bibliographie wäre noch zu verschmerzen. Immerhin werden in einem Index (384­386) die Namen der zitierten Autoren mit ihren Fundstellen aufgeführt. Aber in den Anmerkungen wird zwar Name und Titel des jeweiligen Beitrages erwähnt, aber in vielen Fällen nur die jeweils zitierte einzelne Seite genannt, so dass man Anfang und Ende, wenn man das betreffende Werk nicht zur Verfügung hat, nur mühsam aus Nachschlagewerken (wie dem Elenchus of Biblica) ermitteln kann. Für eine eventuelle zweite Auflage wäre man als Leser für entsprechende Ergänzungen dankbar.