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Ausgabe:

Oktober/2006

Spalte:

1041 f

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schmid, Ulrich B.: Unum Ex Quattuor.

Titel/Untertitel:

Eine Geschichte der lateinischen Tatianüberlieferung.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2005. XIV, 401 S. gr.8° = Vetus Latina. Aus der Geschichte der lateinischen Bibel, 37. Kart. Euro 68,00. ISBN 3-451-21955-7.

Rezensent:

Gert Haendler

Die Arbeit ­ eine überarbeitete Betheler Habilitationsschrift von 2002 ­ beginnt mit Bischof Viktor von Capua, der 547 die Abschrift eines Textes signierte, den er »unum ex quattuor evangelium compositum« nannte (11). Dieser Text wurde als Codex Fuldensis aufbewahrt, die Worte »Unum Ex Quattuor« wurden nun zum Buchtitel. Evangelienharmonien sind bekannte Zeugen nationalsprachlicher deutscher Literatur des 9. Jh.s: Der Heliand, ein altsächsisches »Leben Jesu« in Gedichtform, sowie der »Krist« Otfried von Weissenburgs in althochdeutschen Reimen. Dazu kommt eine in Fulda geschriebene Evangelienharmonie in lateinischer und althochdeutscher Sprache, die in der Mitte des 9. Jh.s nach St. Gallen kam und dort aufbewahrt wurde.

Die Tradition der Evangelienharmonien wurde oft zurückgeführt auf das »Diatessaron« Tatians aus dem späten 2. Jh., das jedoch verloren ist. Die Bibeltexte des Codex Fuldensis stammen aus der Vulgata, also einer späteren Übersetzung. Man meinte, es habe eine frühe lateinische Übersetzung von Tatians Diatessaron gegeben mit Bibeltexten, die dann über die »Vetus Latina« Auskunft geben würden. Diese Annahme nennt S. eine Aporie: Es ist »unerheblich, ob es diese altlateinische Harmonie wirklich gegeben hat oder nicht. Entscheidend ist, daß der Nachweis ihres Einflusses auf die spätere mittelalterliche Harmonieüberlieferung nicht geglückt ist«. Daher verzichtet er auf diese Hypothese (45).

Unter der Überschrift »Die Unum Ex Quattuor-Überlieferung: Eine Genealogie« beschreibt S. zunächst den Codex Fuldensis und andere Zeugen des 9. Jh.s (99­176). Erst im 12. Jh. wurde der Name »Unum Ex Quattuor« zur Identifizierung der Fuldensis-Harmonie üblich (177). Im 9. Jh. gab es zwei Abschriften des Codex Fuldensis (183). Das 12./13. Jh. zeigt »eine sich enorm ausbreitende und bei aller Differenzierung dennoch relativ strukturierte Tradition« (189). Zwischen dem 9. und 12. Jh. ist keine Handschrift der Unum Ex Quattuor-Harmonie nachweisbar. Ein Exkurs untersucht, »ob der Heliand direkt auf den Codex Fuldensis zurückgeht oder auf eine der Abschriften des 9. Jahrhunderts« (202 f.). Es gibt kein Indiz, dass die Harmonie den Evangelien liturgisch gleichgestellt sei oder »daß eine Evangelienharmonie überhaupt einen liturgischen Sitz im Le-ben gehabt hätte« (206). Man dachte an einen »Studientext höherer Ordnung« oder »klösterliche Vorlesetexte« (209 f.).

S. sieht kein gemeinsames funktionales Motiv für die Texte, wohl aber »einen gemeinsamen spirituellen Hintergrund, nämlich die Aktualisierung des Bonifatiuserbes« (226). Der Codex in St. Gallen sollte diesem »spirituellen Ziel dienen, nämlich dem Heiligen im Zu-Gehör-Bringen ðseinesÐ Evangeliums zu begegnen«. S. vermutet, dass Hrabanus Maurus den Text »zur Propagierung der Verehrung seines Heiligen hat anfertigen lassen und wahrscheinlich im Jahre 841 Hartmut, dem neuen Abt von St. Gallen, zu dessen Amtsantritt dezidierte« (229). Später diente die Harmonie als Schultext (230­251). Petrus Cantor benutzte für seine Vorlesungen über die Harmonie wahrscheinlich eine glossierte Harmoniehandschrift (249). Für ihn hatte die Harmonie »eine vergleichbare Würde wie neutestamentliche Evangelien«, sie bot Vorteile für Lehrer und Hörer im Vorlesungsbetrieb (250). Ohnehin liegt eine Harmonie der vier Evangelien nahe, »das Evangelium sucht sich diese einheitliche Darstellung aus seinem zentralen theologisch-soteriologischen Anliegen heraus selber« (251). Sie war ein Medium persönlicher Frömmigkeit. Ein »Junktim von Harmonie und Gebet bekommt im 14. Jahrhundert besondere Popularität« (266).

Zum Abschluss formuliert S. vier Beobachtungen: 1. Die Unum Ex Quattuor-Überlieferung wurde im Laufe einer rund 800-jährigen Geschichte sich ändernden Interessen und Bedürfnissen angepasst. Sie erscheint als Aktualisierung des Bonifatiuserbes und als Schultext. Sie wird zu meditativen Zwecken mit Gebeten und Sermones versehen und auch übersetzt. Diese Überlieferung hatte ganz offensichtlich das Potential zur Erneuerung. 2. Ein wichtiger Grund für dieses Potential war sicher das weitgehende theologische Einverständnis des Mittelalters mit der harmonisierenden Sicht der neutestamentlichen Evangelien überhaupt. Die Harmonie konnte sich in diesem Medium ungezwungen entfalten. 3. Trotz aller Kritik an Einzelheiten der Harmonie und trotz der Versuche, die Harmonie moderneren Erkenntnissen anzupassen, hat sich die Unum Ex Quattuor-Harmonie doch auch bis in die sich neu formierenden Frömmigkeitsformen hinein behauptet. 4. Schließlich verband die Harmonie vom 12. Jh. an mit textgebundener Autorität auch eine Fülle von praktischen Hilfsmitteln, die durch die Kommentierungen, Parallelstellenapparate und Glossierungen auch noch späteren Benutzern gute Dienste leisten konnten (273 f.).

Zur weiteren Forschung regen fünf Appendizes (282­378) an sowie ein Literaturverzeichnis und Register (394­401). Auch Band 37 der Reihe »Aus der Geschichte der lateinischen Bibel« bringt wieder reiches Quellenmaterial und Anregungen hoher Qualität.