Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2006

Spalte:

1037–1039

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Ehlen, Oliver:

Titel/Untertitel:

Leitbilder und romanhafte Züge in apokryphen Evangelientexten.

Verlag:

Untersuchungen zur Motivik und Erzählstruktur (anhand des Protevangelium Jacobi und der Acta Pilati Graec. B). Stuttgart: Steiner 2004. 312 S. gr 8° = Altertumswissenschaftliches Kolloquium, 9. Kart. Euro 60,00. ISBN 3-515-08470-3.

Rezensent:

Jan Dochhorn

Nachdem bereits 1932 Rosa Söder eine Abhandlung zu Parallelen zwischen dem antiken Roman und den apokryphen Apostelakten vorgelegt hat (»Die apokryphen Apostelgeschichten und die romanhafte Literatur der Antike«, Stuttgart 1932), welche die Forschungsdiskussion zu dieser Sorte altkirchlicher Erzählliteratur nicht unwesentlich geprägt hat, verfolgt die vorliegende Veröffentlichung das Ziel, auch apokryphe Evangelien auf ihre Beziehungen zum antiken Roman hin zu untersuchen.

Als exemplarische Texte wählt E. zwei Erzählungen aus, die gemeinhin (z. B. in der Sammlung von Hennecke-Schneemelcher) den apokryphen Evangelien zugerechnet werden: das so genannte Protevangelium Jacobi (Prot Ev Jac) und die Acta Pilati (Acta Pil), die auch unter dem Namen Nikodemusevangelium bekannt sind (E. beschränkt sich auf die Recensio graeca B, vgl. Tischendorf: Evangelia Apocrypha, 287 ff.). Ersteres erzählt von der Geburt und Jugend Marias sowie von der Geburtsgeschichte Jesu, Letztere betreffen die Passionsgeschichte. Beide füllen, wie E. mehrfach hervorhebt, »weiße Flecken« in der Biographie Jesu aus und bieten seines Erachtens daher »dem Verfasser oder Redaktor den größten Spielraum, fiktional zu gestalten bzw. frei zu erfinden« (93). Sie seien daher ­ anders als etwa Sammlungen von Aussprüchen Jesu oder Dialoge des Auferstandenen ­ von vornherein geeignet, im Hinblick auf Beziehungen zur fiktionalen Großgattung Roman in Augenschein genommen zu werden (93, vgl. 76­77).

Dabei hat E. indessen durchaus im Blick, dass »apokryphe Evangelien Š als schriftlich fixierte Jesustradition von ihrem Ausgangspunkt und Selbstverständnis« her »erst einmal nicht als fiktional zu betrachten sind« (80). Je mehr aber sowohl in der Motivik als auch in der Erzählstruktur fiktionale Elemente zum Zuge kämen, desto eher sei der Text als romanhaft zu betrachten, so dass er sich einer literarästhetischen Betrachtung erschließe (ebd.).

Die Monographie von E. ist klar strukturiert. Am Anfang steht eine exemplarische Gegenüberstellung eines Abschnitts aus dem Prot Ev Jac und dem Roman Leukippê und Kleitophon des Achilleus Tatios (9­15). Es folgt ein umfangreiches Kapitel, in dem geklärt wird, was man sich unter dem antiken Roman, einem Evangelium und unter apokrypher Literatur vorzustellen hat (16­77). Sodann werden Methodik und Untersuchungsziel erläutert (78­94). Dabei dient ein ­ modifiziert übernommener­ Katalog von (durchweg auf den Inhalt bezogenen) Kriterien, anhand dessen Rosa Söder apokryphe Apostelakten und die antike Romanliteratur miteinander in Beziehung gesetzt hatte, als wichtige Argumentationsgrundlage (81­90); als Beispiel seien hier nur das Element der Reise genannt (ständiger Ortswechsel spielt in den Apostelakten bekanntermaßen eine bestimmende Rolle) sowie das erotische Moment, das in den Apostelakten vor allem in einem starken Interesse an der Askese und damit in eigentümlich gebrochener Form zur Geltung kommt. Daneben wird angekündigt, dass im Anschluss an narratologische Untersuchungen von Hägg zum antiken Roman (1971) auch die Erzählstruktur Gegenstand des Vergleichs sein soll; dem wird nachfolgend ein besonderes Interesse an der Konstruktion personaler und strukturaler Leitbilder sowohl im antiken Roman als auch im Prot Ev Jac und den Acta Pil entsprechen. Es folgt ein Hauptteil, der ausgewählte Perikopen zunächst des Prot Ev Jac (95­179) und sodann der Acta Pil (180­288) kommentiert; die Kommentarabschnitte skizzieren die narrative Oberflächenstruktur der Perikopen (selbstverständlich unter Berücksichtigung des Kontextes) und nehmen ­ der zentralen Fragestellung entsprechend ­ vor allem Parallelen zum antiken Roman in Motivik und Erzählstruktur in den Blick. Das Resüme (289­295) ist vor allem den Motivparallelen (nach dem o. g. Kriterienkatalog) und der Konstruktion personaler und strukturaler Leitbilder gewidmet.

Der Schwerpunkt der Arbeit liegt in der Kommentierung von Einzelperikopen, und hier hat E. einiges an Interessantem mitzuteilen. So wird man beispielsweise der psychologisch feinsinnigen Kommentierung des Dialogs zwischen Anna und ihrer Magd Jouthine in Prot Ev Jac 3 (105 ff.) entnehmen können, wie hier ein Erzähler geschickt einen friedfertig beginnenden Dialog zum Streit eskalieren lässt. Weniger überzeugend ist dann allerdings der Hinweis auf eine Parallele im Roman Chaireas und Kallirrhoê des Chariton (107): Außer dass sich in beiden Fällen eine Herrin mit ihrer Dienerin unterhält, vermag ich hier wenig Gemeinsamkeiten zu entdecken. Dieser Fall steht paradigmatisch für andere Vergleiche, bei denen man den Eindruck hat, dass sie sich ohne die Fragestellung der Monographie nicht unbedingt ergeben hätten.

Wichtiger als Kritik im Einzelnen sind indes prinzipielle Fragen, die dann wiederum nicht allein an E. zu richten sind, sich aber gleichwohl auf Grund seiner Arbeit ergeben. Sie betreffen die Großgattungen, die hier in Beziehung gebracht werden, nämlich den »antiken Roman« und die Evangelienlitereratur.

In Bezug auf den Ersteren ist zu fragen, ob man wirklich, wie E. es tut, so ohne weiteres das Konzept Fiktionalität auf diesen anwenden darf. Sofern beispielsweise Euhemeros mit seiner »Heiligen Aufzeichnung« (über den Inselstaat Panchaia und eine dort befindliche Tempelinschrift) einen Roman geschrieben haben sollte (und als solcher wird sein fragmentarisch erhaltenes Werk in der Forschungsliteratur durchaus bezeichnet), stellt sich beispielsweise die Frage, warum schon Kallimachos ­ nur wenige Jahre nach Abfassung dieser Schrift ­ spottend in Abrede stellt, dass Euhemeros jemals die von ihm in Übersetzung »publizierte« Stele gesehen habe (vgl. M. Winiarczyk: Euhemeri Messeni Reliquiae, Stuttgart-Leipzig 1991, T 1a [1]). Ein solcher Vorwurf wäre, wollte man das Konzept Fiktionalität als Grundlage für die Verständigung zwischen Romanautor und -leser voraussetzen, ziemlich absurd.

Ähnliche Fragen kann man im Hinblick auf den Alexanderroman stellen: Dieser wurde in der Spätantike sowohl von jüdischen oder christlichen Lesern interpoliert ­ mit Passagen, die gezielt auf das jüdische bzw. christliche Weltbild referieren (vgl. etwa Vita Alexandri, Rez e 20 [Trumpf 75­78]). Nimmt man eine prinzipielle Non-Fiktionalität primär religiös motivierter Texte als gegeben an, so stellt sich hiermit die Frage: Setzt eine non-fiktional motivierte Interpolation nicht ein non-fiktionales Verständnis des interpolierten Textes voraus? Wie sicher können wir also sein, dass ein antiker Leser, der in einem Text »romanhafte Züge« wahrnimmt, auf Fiktionalität schließen wird bzw. dass ein Autor mit solchen Elementen Fiktionalität des Erzählten signalisiert? E. bringt romanhafte Züge und Fiktionalität miteinander in Verbindung, freilich ohne beides voreilig miteinander zu identifizieren (93­94), und bleibt dabei eine grundsätzliche Klärung des Verhältnisses beider Größen schuldig. Vor allem wäre viel nachdrücklicher die Frage zu stellen, was eine fiktionale Konnotation romanhafter Züge denn für die Auslegung von Texten impliziert, die auch nach Meinung von E. einer generell non-fiktionalen Gattung zugehören (80). Der Möglichkeit, auf diese Weise zur Hermeneutik religiöser Texte, vielleicht auch biblischer Texte, beitragen zu können, hat E. sich weitgehend begeben.

Die zweite Großgattung, über die hier kritisch nachgedacht werden muss, ist die der Evangelien, der E. in Übereinstimmung mit dem Mainstream der Forschung seine beiden exemplarischen Texte zuordnet. Doch sind wir tatsächlich berechtigt, das Prot Ev Jac und die Acta Pil als Evangelien zu kategorisieren? Im Decretum Gelasianum werden eine ganze Menge apokrypher Schriften unter der Bezeichnung »Evangelium« aufgeführt; das Prot Ev Jac indessen wird sich wohl eher hinter der Bezeichnung »Buch über die Geburt des Erlösers und über Maria oder die Hebamme« (Hennecke-Schneemelcher I,22) verbergen.

Die ­ sehr unterschiedlichen ­ Superscriptiones in den Handschriften lassen (anders als bei zahlreichen apokryphen Evangelien) beim Prot Ev Jac den Gattungsbegriff »Evangelium« denn auch durchgehend vermissen; erst seit dem Erstherausgeber Postel wird ­ wie auch E. mitteilt (98) ­ das Werk »Protevangelium« genannt (vgl. Tischendorf: Evangelia Apocrypha 1­2 App., speziell S. 2 unter der Sigel Fapos). Im ältesten handschriftlichen Zeugen, Pap. Bodmer V (4. Jh.), ist das Prot Ev Jac sogar mit gENESIS mARIAS. HYPOKLALYPSIS. IAKOB ( Strycker 64) überschrieben; es wird auf diese Weise als Offenbarungsmitteilung des (mit Jesus verwandten) Jakobus gekennzeichnet, der in Prot Ev Jac 25 als Autor vorgestellt wird. Dies spricht ­ nebenbei bemerkt ­ nicht gerade dafür, dass man das Prot Ev Jac im Sinne des Fiktionalitäts-Konzeptes gelesen hätte (s. o.). Ähnliche Beobachtungen lassen sich zu den Pilatusakten bzw. dem so genannten Nikodemusevangelium machen, vgl. die Superscriptiones zu den griechischen Rezensionen bei Tischendorf, 210­211.287. Erst in Textzeugen zur lateinischen Version ist der Gattungsbegriff »Evangelium« belegt, vgl. ebd., 333­334.

Man wird bedenken müssen, dass sowohl beim Prot Ev Jac als auch bei den Acta Pil die ursprüngliche Titulatur kaum ganz sicher wird wiederhergestellt werden können; was wir in den Handschriften finden, repräsentiert eher das Urteil der Leser. Doch auch das ist von Bedeutung: Man hat beide Texte in der Antike offenbar nicht als Evangelien wahrgenommen. Warum tun wir es?