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Ausgabe:

Oktober/2006

Spalte:

1025–1028

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Alkier, Stefan, Deuser, Hermann, u. Gesche Linde [Hrsg.]:

Titel/Untertitel:

Religiöser Fundamentalismus. Analysen und Kritiken.

Verlag:

Tübingen: Francke 2005. VIII, 230 S. gr.8°. Kart. Euro 29,90. ISBN 3-7720-8099-5.

Rezensent:

Theo Sundermeier

Die hier versammelten Aufsätze gehen auf eine Vorlesungsreihe an der Fakultät für Evangelische Theologie an der J. W. Goethe-Universität Frankfurt zurück, die im Juni 2004 zum Thema »Religion und Politik« aus Anlass des 90-jährigen Bestehens der Universität stattfand. Die Nennung des Datums ist darum nicht unwichtig, weil die Präsidentenwahlen in den USA bevorstanden und einer der wichtigen Vorträge zum Thema Fundamentalismus in den USA sich hierauf bezieht und noch unter der unterschwelligen Hoffnung konzipiert wurde, dass die Wahlen anders verlaufen würden, als sie tatsächlich verlaufen sind. Schade, dass der Vf. seinen Text später nicht ergänzt hat. Aber auch so wird der Text von R. C. Neville, »Religion, Fundamentalismus und die Politik des Weißen Hauses« (63­80) nicht nur für die Hörer der Vorlesung, sondern auch für die Leser des Buches besonders attraktiv sein. Zwar werden letztlich keine neuen Einsichten in das von den USA ausgehende Phänomen des christlichen Fundamentalismus vermittelt, wohl aber wird das Spektrum der breit gestreuten Reaktionen der Kirchen auf das religiös motivierte politische Handeln der Bush-Administration entfaltet. Auch wenn der Text gelegentlich in journalistischer Leichtigkeit abgefasst ist und der Vf. sich selbst nicht überall an die von ihm aufgestellten sinnvollen sechs Kriterien hält, an denen man erkennen soll, ob man von Fundamentalismus sprechen kann oder nicht (63 f.), ist er ein authentisches Zeugnis eines engagierten Christen, der zur Methodistischen Kirche gehört wie der Präsident, der die USA in einen unsäglichen, völkerrechtlich nicht autorisierten Krieg gezogen hat.

Ein kleiner Fehler ist dem Vf. unterlaufen (oder hat die Übersetzerin nicht richtig gelesen?): Bob Edgar war im März 2003 nicht Generalsekretär des Weltrates der Kirchen, sondern Konrad Raiser. Wenn ich recht informiert bin, war er Generalsekretär des Nationalrates der Kirchen in den USA.

Wie es in einer solchen Sammlung von Vorträgen nicht anders sein kann, so sind auch hier sehr gute Texte und andere, weniger gute, aber immer noch lesenswerte zusammengestellt. Zu den Letzteren gehört der von Mehmet Emin Köktas zum Thema »Islamischer Fundamentalismus: Eine kritische Analyse« (119­130), der vor Verallgemeinerungen in der Begriffs- und Urteilsbildung warnt und zu dem bemerkenswerten Schluss kommt: »Der Islamismus ist in der Türkei keine homogene Bewegung« (129). Sein Text spiegelt in jeder Hinsicht die offizielle Haltung der türkischen Regierung zum Islamismus wieder. Das nimmt nicht wunder, denn der Vf. hat eine Stiftungsprofessur inne, die vom Präsidium für Religionsangelegenheiten der Türkei getragen wird (cf. VII), das mit dieser Professur ein Standbein in einer angesehenen deutschen Universität und noch dazu einer theologischen Fakultät bekommen hat.

Zu den lesenswerten Texten gehört weiter der von G. Linde »Christlicher Fundamentalismus in Downing Street No. 10?« (81­118), auch wenn die Vfn. letztendlich ihr Thema verfehlt bzw. die Frage rundum negativ beantwortet, ohne das wirklich zuzugeben. Denn schon nach wenigen Zeilen wird deutlich, dass das »label« Fundamentalismus auf T. Blair nun wahrlich nicht zutrifft, wenn man nicht einer absolut schwammigen Begrifflichkeit anhängt. Lesenswert sind der Text und die gut ausgewählten wichtigen, langen Zitate, wenn man sie unter einem anderen Gesichtspunkt liest: Ist T. Blair Gesinnungsethiker oder vertritt er eine Wertethik und aus welcher Melange trifft er seine Entscheidungen? Diese Perspektive könnte Licht auf einige seiner Entscheidungen werfen, die sich so wenig mit seinem Bekenntnis zum christlichen Glauben verbinden lassen.Wer Bassam Tibis verschiedene Texte zum Islamismus bisher nicht kennt, wird hier (131­154) eine gute Zusammenfassung seiner oft vorgetragenen Thesen finden. Sie werden gern von Vertretern der Multi-Kulti-Szene aufgegriffen, die in ihm einen Vertreter eines liberalen Islam sehen, wie man ihn sich in Europa wünscht und mit dem man in Deutschland gut leben könnte. Nur ist das leider ein Wunschbild, denn Tibi ist ein einsamer Rufer in der Wüste, auf den Muslime leider nicht hören.

Zu den sehr guten und inhaltlich weiterführenden Texten zähle ich die von Hanna E. Kassis, »Beobachtungen zur Verflechtung von Religion und Politik im Konflikt zwischen Israel und Palästina« (155­178), und Yosef Schwartz, »Formen des jüdischen Fundamentalismus im Nahost-Konflikt« (179­189). H. Kassis kann überzeugend die innere Verflechtung von amerikanischem prämillennialistischem evangelikalen Christentum und dem Aufstieg des politischen Zionismus zeigen, das nicht nur dessen Entstehung gefördert hat, sondern auch heute noch aus heilsgeschichtlichem Interesse die Politik der Hardliner gegenüber den Palästinensern unterstützt. In ihrem vor allem historisch ausgerichteten Beitrag kann sie weiterhin aufzeigen, wie stark das religiöse Element auch in den sich eher säkular gebenden politischen Bewegungen ist und immer mehr die anstehenden Entscheidungen bestimmt. Das gilt für Vertreter aller drei Religionen. Ihr deprimierendes Ergebnis lautet: »In der Tat argumentiere ich, daß religiöse Fanatiker, Juden ­ unterstützt von vielen ðevangelikalenÐ Christen ­ und Muslime, Kontrolle über die Situation erlangt haben und nun dabei sind, jedwede künftige Chance auf Frieden oder auch Koexistenz (convivencia) von Palästinensern und Israelis, seien es Muslime, Juden oder Christen, in Palästina-Israel endgültig zu verspielen Š Religion (ist) zum Werkzeug und zum Auslöser mörderischen Hasses zwischen mächtigen Fraktionen der beiden Parteien geworden, die Anspruch auf dasselbe Land erheben« (178). (Ein Hinweis für die Übersetzerin: Der Begriff »convivencia« [178] sollte heute nicht mehr mit dem einen anderen Inhalt vermittelnden Begriff »Koexistenz« übersetzt werden, sondern mit dem im deutschsprachigen Bereich weithin rezipierten Ausdruck »Konvivenz«, der z. B. in der neuen Auflage der RGG einen eigenen Artikel bekommen hat.)

Auch Y. Schwarz¹ Vortrag öffnet keine Tür für Hoffnung im Blick auf das Konfliktfeld Israel-Palästina. Er kann aufzeigen, dass der säkulare Zionismus letztlich immer von einem latenten Messianismus unterfüttert war. Seine These lautet: »Säkular ist die zionistische Bewegung nicht unbedingt. Dagegen ist sie ohne Zweifel sehr modern, oder besser gesagt, sie stellt eines der erfolgreichsten Projekte nationaler Moderne im 20. Jahrhundert dar. Aber modernisierte Religiosität ist gerade einer der bedeutendsten Merkmale des Fundamentalismus« (184).

Die These Th. Meyers, die lange Zeit die Diskussion bestimmt hat, der Fundamentalismus sei eine Rückkehr in die Vormoderne, in die Zeit vor der Aufklärung, wird in diesem Buch von keinem Autor mehr vertreten. Solche Etikettierung hat den Blick zum Verständnis des Fundamentalismus und seiner Attraktivität, ja auch seines Wahrheitsanspruches verstellt. Dagegen wendet sich ausführlich H.-G. Heimbrock in dem Aufsatz »Wahrheit ­ Lebensform ­ Subjekt. Praktisch-theologische Anmerkungen zu christlichen Fundamentalismen« (27­44). Am Beispiel der Adventisten zeigt er mit Th. Steiniger, dass der Fundamentalismus »theoretisch nicht zu retten (ist), er muß jedoch praktisch verstanden werden«. Indem er nun den Fundamentalismus als »Lebensform« interpretiert, kann er sich ihm bemerkenswert verständnisvoll nähern und die Fundamentalisten in ein theologisches Gespräch einbeziehen (39). Das ist ein wichtiger Ansatz. Die Frage jedoch ist, ob der in der innerchristlichen praktisch-theologischen Analyse gefundene Weg sich auch im interreligiösen Dialog bewähren wird oder ob hier doch ein anderer Interpretationsmodus gewählt werden muss. Die Interpretation der Symbolik der anderen Religion könnte solch ein Weg sein, denn was auf den ersten Blick und in den von unserer Kultur geprägten Augen fundamentalistisch zu sein scheint, kann im fremden Kontext eine ganz andere Bedeutung haben.

Dass eine Differenzhermeneutik stets auf diese Problematik aufmerksam machen muss, mag abschließend an dem die Vortragsreihe eröffnenden Beitrag von H. Deuser »Religion und Politik ­ Zur theologischen Kritik des religiösen Fundamentalismus« (1­10) verdeutlicht werden. Seine Kernthese geht von der Unterscheidung zwischen dem »inneren Menschen«, dessen Gewissensbindung unbedingt zu beachten ist, und dem »äußeren Menschen« aus, der sich im Zusammenleben einer Rechtsordnung unterwerfen muss. Diese »unbedingte Gewissheitsbildung des inneren Menschen« muss »ausdrücklich respektiert« werden. »Genau diese produktive Unterscheidung von äußerer Relativität bei innerer Verpflichtung ist die tragende Bedingung nicht-fundmentalistischer Religiosität wie Politik« (8). Diese in lutherischer Theologie beheimatete Unterscheidung mag bei uns einleuchten. In den meisten Religionen ist sie aber nicht plausibel und wird nicht von der jeweiligen Religion abgedeckt. Das führt aber dennoch nicht zum Fundamentalismus. Andere Faktoren müssen hinzukommen, bis dass eine für den Fundamentalismus günstige Atmosphäre entsteht. Immer und in jedem Fall muss zwischen dem pazifistischen und einem militanten Fundamentalismus unterschieden werden, was leider nur an wenigen Stellen im Buch geschieht.