Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/1998

Spalte:

428 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Demmer, Klaus

Titel/Untertitel:

Christliche Existenz unter dem Anspruch des Rechts. Ethische Bausteine der Rechtstheologie.

Verlag:

Freiburg/ Schweiz: Universitätsverlag; Freiburg-Wien: Herder 1996. 216 S. gr.8° = Studien zur theologischen Ethik, 67. Kart. DM 38,­. ISBN 3-7278-1011-4 u. 3-451-23882-9.

Rezensent:

Hartmut Kreß

In der evangelischen Theologie waren die Rechtsethik bzw. die Rechtstheorie in den letzten Jahrzehnten oft nur ein Randgebiet. D.s Buch zufolge ist es aber auch für die heutige katholische Morallehre, in der ein "Klima" der "Rechtsverdrossenheit" herrsche (7), ein Desiderat, sich der Rechtstheorie zuzuwenden.

Für die Geistes- und Kulturgeschichte der Neuzeit ist es wegweisend geworden, zwischen Ethik und Recht kategorial zu unterscheiden. Dieser Unterscheidung verdankt sich z. B. die Achtung und Anerkennung der persönlichen Gewissens- und Religionsfreiheit durch den neuzeitlichen Staat. Für die persönliche Gesinnung und innere Einstellung der Menschen besitzen Staat und Recht keinerlei Zuständigkeit. Von der neuzeitlichen Ausdifferenzierung von Recht und Ethik sowie den Gegebenheiten des modernen, säkularisierten, nachkonfessionellen Staates geht D.s Buch von vornherein aus. Zugleich betont D. allerdings, daß ­ im Gegenzug zur Entschränkung von Recht und Ethik in der Neuzeit ­ heute ebenfalls ihre konstruktive Zuordnung zu beachten ist. Denn die Rechtsordnung und Rechtskultur sind keine autarken Systeme. Ein rein verfahrensrationales, formales Rechtsverständnis greift ­ wie D. zu Recht unterstreicht ­ zu kurz (62 ff.). Vielmehr ist das Recht von der Ethik, dem gelebten Ethos und den Wertorientierungen der Bürger seinerseits abhängig (114, 134, 147); der lernoffene demokratische Staat ist auf die "denkerische Mitverantwortung aller Rechtsgenossen" angewiesen (144); die Rechtsbegründung sowie die Rechtsanwendung müssen "sittlich verantwortbar bleiben" (214, vgl. 12). Daher erörtert D. die ethische Fundierung des Rechts bzw. ­ so der Buchtitel ­ die "christliche Existenz unter dem Anspruch des Rechts".

Von einem metaphysisch normativistischen Naturrecht als Grundlage von Rechtsbegründung und Rechtsverständnis distanziert sich D.s Denkansatz. Das Naturrecht wird geschichtlich gedeutet (31 ff.). Einen hohen Stellenwert mißt D. Situationsanalysen (38), Güterabwägungen (30), dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit (41), dem Äquiprobabilismus (42) sowie vor allem der Epikie zu, die im Sinne Thomas’ der "Verbesserung von Normen" (101), also der kulturellen Weiterarbeit an Normensystemen (102, 155 ff.) zugute kommen soll. Zugleich liegt D. an einem genuin theologischen Zugang zur Ethik des Rechts (124 ff.). Auf der Grundlage theologischer Anthropologie rückt er den Personbegriff, die Personwürde, die Gleichheit aller Menschen sowie vor allem die Rechte schwächerer Menschen ins Licht (81 ff., 120 ff). Aus dem christlichen Glauben und der Rechtfertigungslehre ergibt sich ein "Ethos der Gratuität" (89). Indem D. die Impulse der Rechtfertigung für den Umgang mit dem Recht hervorhebt, argumentiert er bewußt ökumenisch und greift Gedankengänge der evangelischen Theologie auf (118). Ebenso betont er anknüpfend an die katholische autonome Morallehre, daß das christliche Verständnis des Sittlichen und die rationale ethische Kommunikation keineswegs einen Widerspruch bilden. Der christliche Glaube kann und soll auf die allgemeine sittliche und damit auch auf die rechtliche Vernunft Ausstrahlung besitzen (113, vgl. 90 f.).

D.s Buch enthält zahlreiche Anregungen. Angewandte Themen der Rechtsethik, z. B. die Embryonenschutzgesetzgebung oder die kirchliche Beteiligung an der Schwangerschaftsberatung, werden zwar nur andeutungsweise angesprochen (168 Anm. 70, 210 Anm. 69). Jedoch dem grundsätzlichen rechts­ und kulturethischen Sachverhalt, daß die Akzeptanz und Überzeugungskraft des Rechtes und der Verfassung in der demokratischen Gesellschaft vom gelebten Ethos und der Wertorientierung der Bürger selbst abhängen, verleiht das Buch Gewicht. Für die christliche Theologie bzw. die Christen bezeichnet D. in pointierter Weise die Liebe als Zugang zum Recht (129). Zum Leitbild eines "Rechtes der Liebe" (ebd.) ist m E. jedoch zu bedenken, ob hierdurch der Liebesbegriff nicht doch zu stark entgrenzt wird. Hat die ­ in der Neuzeit besonders seit Samuel Pufendorf entfaltete ­ Unterscheidung zwischen Humanitäts- und Liebespflichten einerseits, Rechtspflichten andererseits nicht nach wie vor ihren Sinn? Das Recht dient der Sicherung des äußeren Zusammenlebens, der pragmatischen Regelung von Konflikten, dem Ausgleich und der berechtigten Durchsetzung von Ansprüchen und gegebenenfalls der Strafzumessung. Wird die Rechtsordnung nicht überfordert, sofern man an sie den Anspruch und den Maßstab der Liebe anlegt? Wenn man die konliktregulierenden Aufgaben sowie die Schutzfunktionen des Rechts statt dessen vom Begriff der Gerechtigkeit her auslegt, wird eine Leitidee zugrundegelegt, die ebenfalls der Humanität und den Belangen der Einzelperson verpflichtet ist und in der christlichen Ethik zutiefst verankert ist.

Eine ganz andere, überaus gewichtige Grundlagenfrage der Gegenwartsethik beruht darauf, daß in der heutigen Gesellschafts- und Rechtsordnung weitreichende Entscheidungen faktisch nicht mehr von einzelnen Menschen als Handlungssubjekten, sondern von überindividuellen Instanzen ­ Wirtschaftsunternehmen, Organisationen, Behörden, Parteien usw. ­ getroffen werden. Dennoch ist der Einzelne nach wie vor auf seine individuelle Verantwortung hin zu behaften. Die schwierige Frage nach der Rolle und der (Mit-)Verantwortlichkeit des Einzelnen im Geflecht anonymer Institutionen bedenkt D. mit Hilfe der klassischen moraltheologischen Lehre von der "Mitwirkung" und ihrer Differenzierungen (176-211).(1) Hieraus könnte auch die evangelische Rechtsethik Anregungen gewinnen.

Fussnoten:

(1) Innerkatholisch hat die Lehre von der Mitwirkung aktuell freilich eine sehr fragwürdige Verschiebung erhalten. Das Verbot von Mitwirkungen wird nun einseitig betont. Dies trat im Januar 1998 in dem problematischen Brief des Papstes an die deutschen katholischen Bischöfe zutage, der die Ausstellung eines Beratungsscheins bei der Schwangerschaftsberatung für unzulässig erklärte.