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Ausgabe:

September/2006

Spalte:

1068–1070

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Nelles, Marcus:

Titel/Untertitel:

Summum ius summa iniuria? Eine kanonistische Untersuchung zum Verhältnis von Einzelfallgerechtigkeit und Rechtssicherheit im Recht der Kirche.

Verlag:

St. Ottilien: EOS 2004. XXXIV, 335 S. gr.8° = Münchener Theologische Studien. III. Kanonistische Abteilung, 59. Geb. Euro 40,00. ISBN 3-8306-7197-0.

Rezensent:

Klaus Lüdicke

Die Einleitung zu dieser am Klaus-Mörsdorf-Studium für Kanonistik erarbeiteten Doktorats-These lässt als Anlass erkennen, dass der Vf. sich mit der Kritik am kanonischen Recht auseinander setzen will, die sowohl den Rechtscharakter dieses Rechtes in Zweifel zieht als auch die Unbestimmtheit zahlreicher Rechtsbegriffe rügt und schließlich eine Ungewissheit der Handhabung dieses Rechtes meint feststellen zu können. Er nimmt sich also einen doppelten Vergleich vor: Einerseits wird das kanonische Recht vor den Hintergrund des staatlichen Rechtes gestellt, andererseits werden die oben genannten Kritikpunkte, als Mangel an Rechtssicherheit zusammengefasst, mit der Frage nach der Möglichkeit des Rechtes konfrontiert, Gerechtigkeit im Einzelfall zu verwirklichen. Der einem Wort Ciceros entliehene Titel soll die Herausforderung markieren, der jedes Recht entgehen möchte. Ob es dem kanonischen Recht gelingt, möchte der Vf. untersuchen.

Zum Inhalt: Unter der Überschrift »Recht und Gerechtigkeit« (erster Hauptteil) geht der Vf. drei Schritte: Er versucht, das Wesen des Rechts zu bestimmen anhand seiner Aufgabe, seines Zwangscharakters, seiner Verpflichtungskraft. Diesen letzten Gliederungspunkt differenziert er aus: Zunächst wird das weltliche Recht auf die Kriterien seiner Verbindlichkeit untersucht: Autorität und/oder Moral? Ein Exkurs über das Verhältnis von Recht und Moral will hier Klarheit schaffen. Dann wird nach der Verbindlichkeit des kirchlichen Rechts gefragt und einerseits die Differenzierung zwischen göttlichem und menschlichem Recht dargestellt, andererseits nach der Sittlichkeit und Vernünftigkeit als Forderung an das kirchliche Recht gefragt. Der zweite Schritt müht sich um das Wesen der Gerechtigkeit. Während das Wesen der weltlichen Gerechtigkeit 36 Seiten verdient, kommt das Wesen der kanonischen Gerechtigkeit mit neun Seiten zu Wort. Im dritten Schritt geht der Vf. die Begriffe der Rechtssicherheit und der Einzelfallgerechtigkeit an, wobei er wiederum verschiedene Konzepte der Rechtssicherheit im weltlichen und im kanonischen Recht erörtert.

Der zweite Hauptteil ist mit »Das Recht in der Kirche« überschrieben. Hier kommt das zur Sprache, was in jeder Arbeit zur Grundlegung des Kirchenrechts seit Rudolf Sohm erörtert zu werden pflegt: Verhältnis von Kirche und Recht, Funktion und Ziel des Kirchenrechts, Verhältnis zwischen kirchlichem und weltlichem Recht, Eigenarten des Kirchenrechts und schließlich das Verhältnis des kirchlichen Rechts zu Gnade, Glaube und Liebe.

Der dritte Hauptteil, mit »Handlungen contra legem« übertitelt, beschäftigt sich mit drei möglichen Gefährdungen der Rechtssicherheit im kirchlichen Recht. Die erste ist die Durchbrechung des Gesetzlichkeitsprinzips, dargestellt am Fehlen (oder am abweichenden Verständnis) der Regel »nulla poena sine lege« im kirchlichen Strafrecht. Als zweite mögliche Gefährdung werden aequitas und Epikie genannt und in ihrem Begriff und ihrer Funktion erläutert, und schließlich wird das Gewohnheitsrecht als dritte Beeinträchtigung der Rechtssicherheit diskutiert. In seiner Schlussbemerkung hält der Vf. fest, dass die Verschiedenheit der weltlichen und der kirchlichen Rechtsauffassung herausgearbeitet werden konnte, dass der Umgang mit Barmherzigkeit und aequitas im kirchlichen Recht möglich ist, ohne dass deswegen die Forderung nach Einhaltung des Gesetzlichkeitsprinzips und anderer allgemeiner Rechtsregeln im kanonischen Recht aufgegeben werden muss. Genuin christlich sei nur der Inhalt, nicht aber die Form des kirchlichen Rechts. Unbestimmtheiten im konkreten kirchlichen Recht beanstandet der Vf. als schädlich für die praktische Handhabbarkeit, für das Ansehen des Kirchenrechts und für das Vertrauen auf seine gerechte Anwendung, zumal sie nicht von der Sache her gefordert seien.

Als wichtigen Unterschied der beiden behandelten Rechtssysteme sieht er einen abweichenden Gerechtigkeitsbegriff an: Die weltliche Rechtswissenschaft begreife die Rechtssicherheit als Teil der Gerechtigkeit und die Barmherzigkeit als eine nicht notwendige Ausnahme vom Recht. Die kirchliche Rechtswissenschaft dagegen begreife Barmherzigkeit und Gnade als notwendigen Bestandteil der Gerechtigkeit und sehe daher die rigorose Anwendung des Rechts als »ungerecht« an (Anführungszeichen im Original, 334). Die zu erwartende weitere Annäherung des kirchlichen Gerechtigkeitsbegriffs an den weltlichen auf Grund stärkerer Gewichtung der Gleichbehandlung könne zu dem paradoxen Ergebnis führen, dass größere Rechtssicherheit dem Verständnis der biblischen und kanonischen Gerechtigkeit eher abträglich sein könne.

Die vorliegende Untersuchung tritt mit dem ehrgeizigen Ziel an, durch klare Begriffe und Definitionen, also Abgrenzungen, zu präzisen Aussagen über die behandelten Fragen zu gelangen (z. B. 12). Dass das immer gelungen sei, wird man nicht ohne weiteres bestätigen können. Ein Grund dafür liegt darin, dass die Hauptteile der Arbeit eine zu große thematische Selbständigkeit haben, also in ihrem Duktus nicht aus der Fragestellung der Arbeit entstanden zu sein scheinen. Jedenfalls sind große Teile der Darlegung innerhalb dieser nicht funktional. Ein Problem sehe ich auch darin, dass der Vf. den Rechtsbegriff und den Begriff der Gerechtigkeit nicht einschränkt auf die Teile des Rechts und der Rechtsanwendung, für die die Fragestellung des Themas überhaupt einen Sinn hat: Man wird das Verfassungsrecht in Kirche und Staat schwerlich mit der Kategorie der Gerechtigkeit konfrontieren können, und auch weite Gebiete des kirchlichen Rechts, etwa das Recht der Sakramente, entziehen sich der gestellten Frage. Wenn es um Einzelfallgerechtigkeit gehen soll, kommen überhaupt nur Rechtsgebiete in Frage, in denen Entscheidungen im Einzelfall getroffen werden können. Eine Norm objektiven Rechtes, die anzuwenden ist, ohne dass eine Entscheidung zu treffen wäre, kann mit der gestellten Frage gar nicht erfasst werden, etwa die Beschränkung des Weihesakramentes auf Männer. Hier sind ganz andere Anfragen am Platze, die für das kirchliche Recht entscheidender sind, nämlich die nach der theologischen Fundierung des Rechtes.

Die Frage der Gerechtigkeit, schreibt der Vf. auf S. 80, beschränke sich stets auf die Verwirklichung und den Schutz von Rechtsgütern. Drei Seiten weiter grenzt er die weltliche Gerechtigkeit von der des kirchlichen Rechts dadurch ab, dass es sich bei Ersterer »im wesentlichen um eine Verteilungsgerechtigkeit handelt, die letztlich nur den Mangel der verteilbaren Rechtsgüter in angemessener Weise verwaltet, während die kanonische Gerechtigkeit aus der Fülle des göttlichen Heils schöpfen kann, ohne befürchten zu müssen, einzelne aufgrund einer Mangelsituation zu übervorteilen« (83). Kann ich schon nicht nachvollziehen, wieso das Wesen der weltlichen Gerechtigkeit als Merkmal des Rechtes (nicht der Wirtschaftsordnung) Verteilungsgerechtigkeit sei, so erst recht nicht die Übertragung dieser Kategorie auf das kirchliche Recht. Fazit: Das Buch berichtet im Rahmen der zusammengestellten Traktate »Recht und Gerechtigkeit«, »Recht und Moral», »Recht in der Kirche« und »Rechtssicherheit im Kirchenrecht« über viele Stimmen und Auffassungen, führt zahlreiche Beiträge der Literatur »nicht chronologischen Gesichtspunkten oder Gesamtentwürfen verschiedener Kirchenrechtsschulen« folgend, sondern an »einer rein argumentativen Struktur« (9) orientiert an und gibt dadurch die Möglichkeit, unterschiedliche Standpunkte kennen zu lernen. Der aus den »Fazits« und den Zusammenfassungen erkennbaren Position des Vf.s kann ich durchweg zustimmen.