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Ausgabe:

September/2006

Spalte:

1061–1063

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Zilleßen, Dietrich:

Titel/Untertitel:

Gegenreligion. Über religiöse Bildung und experimentelle Didaktik.

Verlag:

Münster: LIT 2004. 195 S. m. 1 Abb. gr.8° = Profane Religionspädagogik, 1. Kart. Euro 19,90. ISBN 3-8258-4843-4.

Rezensent:

Harald Schroeter-Wittke

Kaum ein anderer setzt sich in Deutschland seit über einem Vierteljahrhundert theologisch so intensiv mit der vor allem in Frankreich beheimateten zeitgenössischen Philosophie auseinander wie der emeritierte Kölner Systematische Theologe und Religionspädagoge Dietrich Zilleßen.

Im Band 1 der 2001 gegründeten Reihe Profane Religionspädagogik fasst er seine Forschungen als religionspädagogische Fragestellungen und Gedankengänge weiterführend zusammen. Man hat dieser Philosophie viele Etiketten gegeben, mit der man sie sich besonders in der Theologie lange Zeit glaubte vom Halse halten zu können: Neo- oder Poststrukturalismus, Postmoderne, Posthistoire, Dekonstruktivismus etc. Z. hat sich hier nie auf Richtungsdiskussionen eingelassen, sondern die damit verbundenen Denkentwürfe theologisch mit der Zuspitzung auf religionspädagogische Theorie und Praxis durchdrungen. So begegnen in seinem Band intensive und spannende Auseinandersetzungen mit Bataille, Lacan, Levinas, Cioran, Barthes, de Certeau, Deleuze, Foucault, Baudrillard, Derrida, aber auch mit Arendt, Blumenberg, Taubes, Vattimo, Agamben, ¹t Hart, Welsch, Sloterdijk, Bhabha, Zizek, Pazzini u. a. In diesen Auseinandersetzungen zeigt Z. en passant die Nähe vieler dieser Denkentwürfe zu genuin protestantischen Denk- und Lebensfiguren auf, besonders zur Rechtfertigung des Gottlosen (107), zu De servo arbitrio (101), zur Gotteslehre (115) und damit zu einer humanen Grundlegung der Ethik. Dieses verständlich geschriebene Buch kann man jedoch nur schlecht überfliegen, denn es nimmt die Sprache beim Wort. So tut sich eine Entdeckung nach der anderen auf.

Zentrale Kategorien seines Denkens sind zum einen der, die oder das Andere, welches uns in allem, was wir tun, durchkreuzt, fremd macht und fremd bleibt. Gegenüber dem uns umgebenden technokratischen Ordnungswahn setzt Z. (nicht nur) in Sachen Religion auf eine Pädagogik, die dieses Moment des Fremden nicht zu verhindern trachtet, sondern ihm Raum gibt. Christentum bleibt »Fremdreligion« (126). Nicht dass Z. Beheimatung verteufeln würde ­ im Gegenteil. Sie ist von Nöten, damit Religion Gestalt gewinnen kann. Aber sie ist beileibe kein Allheilmittel, schon gar kein fragloses. Denn sie bringt nicht weiter, wenn sich das Leben in seiner Unberechenbarkeit zumeist gewaltig Bahn bricht.

Zum anderen denkt Z. Religionspädagogik und auch Bildung von dem fundamentalen Mangel an Wahrheit her, der uns umtreibt und in uns unstillbare Sehn- und »SinnSucht« (19) auslöst. Wie Menschen mit diesem Phänomen, theologisch jenseits aller Moralität Sünde genannt, konstruktiv umzugehen lernen, ohne es beherrschen zu können, ist eine der Leitfragen, an denen Z. sich abarbeitet. Bildung und Religion sind verbunden durch ihr Unterwegs-Sein. Beiden geht es auch um das Vergessen, welches neues Lernen ermöglicht. Daher ist dieses Buch auch kein Kompendium, sondern »ein Lernbuch, das Fragen und Probleme umkreist, Erfahrungen wieder und wieder bedenkt und ein paar Spuren im Unwegsamen verfolgt« (7).

In vier Kapiteln dekliniert Z. dies an aktuellen Fragen durch. Dabei lässt sich das 1. Kapitel als einleitender Theorieblock lesen, in dem sich die »Didaktik religiöser Bildung« (13) mit der »unausweichlichen Gewaltstruktur menschlicher Kommunikation« (14) auseinander setzt. Durch »Bildungsexperimente« kann diese Gewaltstruktur didaktisch verantwortlich gestaltet werden, denn »Kinder und Jugendliche können sich erst dann bestimmten Traditionen anschließen, wenn sie fähig werden, sie auch zu bestreiten« (26). Deshalb »hat Bildung nicht nur Fähigkeiten, Kompetenzen und Wissen zu vermitteln, sondern auch den Erfahrungen des Nichtkönnens Raum zu geben. Š Endlichkeit stellt nicht die Fähigkeiten des selbstbestimmten Weltumgangs in Frage. Aber sie verweist darauf, dass es menschlich ist, an Werten und Normen zu scheitern.« (29) Mit diesem Credo plädiert Z. für eine radikal semiotische Symboldidaktik, die Zeichen als Zeichen und nicht als Verweis auf Ontologisches dahinter wahrnehmen lernt. So kommen »Sinn und Sinne« (54) und damit der Körper ins Spiel, wiederum nicht als Allheilmittel, sondern als Störenfried, als Kennzeichen des Humanen. Vor diesem Hintergrund kommt die Frage nach der »Verantwortung für das Böse« (38) zur Sprache, eine Grundfrage religionspädagogischer Arbeit. Dabei spielen die Fragen nach Ästhetik und Ethik, nach Kunst, »Didaktik und Politik« (71) eine große Rolle. Damit werden »Wege interreligöser Kommunikation« (80) aufgezeigt, die in einer »Kultur der Vergebung: Derrida« (95) gipfeln.

Die folgenden Kapitel konkretisieren diese Grundfragen religionspädagogisch anhand unterschiedlicher Phänomene: von der Nacht (113) über Spiritualität (123), Sexualität (108) und Inkarnation (132) bis hin zu Bergsteigen (145), Reiseerfahrungen (158), Wertevermittlung (167) und der Frage »Fährt Gott Fahrrad?« (177).

In alledem lässt sich christliche Religion nicht exakt festmachen, weil sie im doppelten Sinne des Wortes ein Versprechen ist. Stattdessen stellt sie sich im Prozess des Umgangs als Gegenreligion heraus, die uns davon befreit, etwas für absolut und unhinterfragbar zu halten. So lässt Z.s Gegenreligion viele Fragen offen ­ und das ist und tut gut.