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Ausgabe:

September/2006

Spalte:

1052 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Richter, Olaf:

Titel/Untertitel:

Anamnesis ­ Mimesis ­ Epiklesis. Der Gottesdienst als Ort religiöser Bildung.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2005. 371 S. gr.8° = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 28. Geb. Euro 38,00. ISBN 3-374-02317-7.

Rezensent:

Thomas Klie

Ein Buch zum Gottesdienst als Bildungsort weckt ungute Erinnerungen an die ebenso emphatischen wie erfolglosen Versuche in den 1970ern, Liturgie und Predigt in den Dienst allzu hastig rezipierter Pädagogiken zu stellen. Die damals veranschlagten Funktionalisierungen mündeten regelmäßig in liturgische Schwundstufen, die die »Lernziele« der Predigt bis in die gottesdienstlichen Rubriken hinein verlängerten. Liturgieimmanenten Bildungsprozessen schenkte man kaum Aufmerksamkeit. Um genau diese Bildungswirkungen aber geht es in dieser Leipziger Dissertation. Ihr Vf. will diejenige religiöse Bildung des Gottesdienstes beschreiben und begründen, die sich »in, mit und unter der Feier ereignet« (7). Der Gottesdienst wird also als ein Bildungsmedium verstanden, in dessen Vollzug sich christliche Religion als »prägende[r] Paidagogos der Christen« (16) formvollendet selbst vermittelt. Es gibt ­ so die Kernthese ­ keinen anderen »Bildungsraum, in dem die christliche Tradition und das religiöse Gedächtnis der Kirche ursprünglicher, umfassender und intensiver dargestellt wird als im Gottesdienst« (71).

Wie der Obertitel der Untersuchung erkennen lässt, erfolgt der Theoriezugriff geradezu klassisch anhand systematisch-theologischer bzw. (liturgie-)historischer Kategorien. Um den »Interpretationsvorbehalt der Theologie« (25) zu sichern, werden die in letzter Zeit vermehrt publizierten funktionalen und phänomenologischen Sichtweisen hier lediglich als Kontrastfolien in den Begründungszusammenhang eingetragen. Die Arbeit gliedert sich in vier große Kapitel: In Abschnitt I. werden die wissenschaftstheoretischen und methodischen Entscheidungen begründet und der Bildungsbegriff liturgisch kontextualisiert. Das folgende II. Kapitel steht ganz im Zeichen der beiden großen Protagonisten liturgischer Bildung: Romano Guardini und Wilhelm Stählin. Dass hier ein katholischer und ein lutherischer Liturgiker gleichberechtigt zu Wort kommen, ist Programm, entwirft doch der Vf. seine Untersuchung ganz gezielt als einen »Beitrag zu einer ökumenischen Liturgiewissenschaft« (16). Der III. Abschnitt ist den zentralen Kategorien gewidmet: Anamnesis (mit starkem Bezug auf die Mysterientheologie Odo Casels und die Theorie des kulturellen Gedächtnisses bei Jan Assmann) als »Vergegenwärtigung«, Mimesis (in spieltheoretischer Perspektive) als »Mitahmung« und Epiklesis (auf der Basis des Performanz-Gedankens) als »spirituelle Zueignung des Heilsgedächtnisses«. In Kapitel IV formuliert der Vf. daraufhin als praktisch-theologische Konsequenzen vier Desiderate: eine stärkere Wahrnehmung der leiblich-zeitlichen (»Mystagogie«), der bildlichen (z. B. Kirchenraum), der spielerisch-dramatischen und der meditativen Dimensionen (z. B. Schweigen) des Gottesdienstes.

Eine wichtige Schaltstelle markiert die Definition eines liturgisch anschlussfähigen Begriffs religiöser Bildung. Der Vf. macht hier deutliche Anleihen bei der sog. geisteswissenschaftlichen Pädagogik, wenn er Bildung als umfassenden »Such-, Klärungs- und Handlungsprozess« versteht und dabei den Begriff zugleich rückbindet an dessen mystische Etymologie: eben als einen lebenslangen »Prozess der Wiedereinbildung des Menschen in seine Gottesebenbildlichkeit« (39). Religiöse Bildung am Gottesdienst ist gleichsam das »Gefäß für die religiöse Suche von Menschen«, sie eröffnet »Zugangsräume für glaubensbildende Erfahrungen« (46).

Die Untersuchung besticht insgesamt vor allem durch ihre umfassende Kenntnis der katholischen Liturgik; die vorgetragenen Thesen sind argumentativ gut gestützt und breit belegt ­ eine fundamentalliturgische Arbeit von großer Reichweite. Je länger man allerdings liest, desto mehr irritiert die privilegierte theologische Perspektive bzw. die konsequente Abgrenzung gegen phänomenologische Sichtweisen. Das schmälert nicht nur unnötig die Interpretationsmarge, dieser Ansatz tendiert leider insgesamt auch dahin, Theologie mit Dogmatik reduktionistisch zu identifizieren. Eine terminologische Unschärfe zeigt sich hinsichtlich der vortheoretischen Rede von der »Ganzheitlichkeit« (als Bezeichnung eines transkognitiven Bereichs). Wenn überhaupt, so kann »Ganzheitlichkeit« theologisch allenfalls als eschatologische Größe veranschlagt werden, didaktisch jedoch hat sie sich längst selbst diskreditiert.

Dass der Vf. hier ganz offensichtlich ins Fahrwasser seiner liturgiegeschichtlichen Kronzeugen Guardini und Stählin geraten ist, tritt auch beim durchgehend unkritischen Re-Import eines ontologisierenden Symbol-Begriffs zu Tage. So besteht das »Liturgische Mysterium« dem Vf. zufolge darin, dass »die Wesenszüge des Glaubens und des Heilsgedächtnisses nicht nur erinnert, nicht nur dargestellt, sondern lebendig vergegenwärtigt« werden; die Gottesdienstteilnehmer erleben darüber eine »Wiedereinbildung« in ein »Urbild« (144). Sie sind »Mitspieler in einem anamnetischen Kultdrama« und machen darüber das Urbild »zum real wirkenden Abbild« (182). Kann der latente Platonismus der liturgischen Bewegung bzw. können deren lebensphilosophische Anleihen heute wirklich so einfach ungebrochen repristiniert werden? Zumindest greift es fundamentalliturgisch bei weitem zu kurz, bei Guardini und Stählin lediglich deren »Antimodernismus« (104) und »Zeitbedingtheit« (139) zu monieren, ihr Gottesdienstverständnis ansonsten aber als ein »wegweisendes Konzept« (105) zu rezipieren. Das zu schnell verliehene Etikett »ökumenisch« verkennt sowohl die nicht geringen Differenzen beider Entwürfe untereinander sowie zum aktuellen Diskurs wie auch den für eine protestantische Liturgik nicht unerheblichen Unterschied zwischen einem repräsentativen und einem semiotisch-relationalen Symbolverständnis. Dadurch, dass wichtige Diskurse schlicht ausgeblendet werden, gerät die hier favorisierte »ökumenische« Deutung in eine leicht katholisierende Schieflage.

In den Urbild-Abbild-Konnex fügt sich letztlich auch die Konstruktion der didaktischen Schnittstellen ein. Im Blick ist hier weniger das seiner selbst bewusste, poietische Subjekt als vielmehr der rezeptive, in einem »Abbilde- und Prägeverhältnis« stehende Myste (242). Auf der Produktionsseite ist deshalb (1. Desiderat) »ständig an der Verwirklichung der ursprünglichen und theologisch adäquaten Form der Liturgie zu arbeiten« (282), die »Bildung ästhetischer Kompetenz« voranzutreiben (305; 2. Desiderat), das »Kultdrama« zum »Gesamtkunstwerk Gottesdienst« (319) zu stilisieren (3. Desiderat) und schließlich im Schweigen das »intuitive Erfassen« (339) zu üben (4. Desiderat).

Im Konzert liturgietheoretischer Stimmen spielt diese detailreiche Untersuchung zweifelsohne einen tragenden Part, doch zur Sinfonie kommt es wohl doch nur im Verein mit den funktionalen Gottesdienstkonzepten.