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Ausgabe:

September/2006

Spalte:

1047–1050

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Josuttis, Manfred:

Titel/Untertitel:

Heiligung des Lebens. Zur Wirkungslogik religiöser Erfahrung.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2004. 286 S. 8°. Kart. Euro 29,95. ISBN 3-579-05421-X.

Rezensent:

Martin Kumlehn

In diesem Aufsatzband geht es um eine phänomenologische Erfassung und begriffliche Analyse des Religiösen, um die Einflüsse des Göttlichen und des Bösen, um das Verhältnis von Psychotherapie und religiösem Ritual, um die Parallelen von Sport und Religion, um die sprachlichen, leiblich-gestischen, rituellen und sakramentalen Praktiken, in denen sich Religion artikuliert, um die Rolle des Pfarrers/der Pfarrerin, um die nur im Modus der individuellen Konversion zu stillende Sehnsucht nach Leben, um die damit einhergehenden Transformationen und Trennungsprozesse, um Mystagogik und Einweihung, um die Toten und die Heiligen. Der Vf. variiert somit pastoraltheologische, homiletische, kirchen- bzw. kasualtheoretische und liturgiewissenschaftliche Themenstellungen, denen er bereits umfänglichere monographische Studien gewidmet hat.

Die Zusammenstellung dieser Texte aus den Jahren 1989­2003 lässt jedoch wie in einem Brennglas sehr präzise sowohl die Alternativlosigkeit als auch die besondere Problematik jener Wende zur Phänomenologie erkennen, die von der Praktischen Theologie der letzten Dekade vollzogen wurde. Über die spezifische, zum praktisch-theologischen Mainstream durchaus quer liegende, religionsphänomenologische Orientierung des Vf.s gibt das erste Kapitel Auskunft, in dem die religiöse Erfahrung vor dem Hintergrund der Kategorie des »Heiligen« (Rudolf Otto) perspektiviert wird. Mit Hilfe dieses Begriffs soll gegenüber einer zeitgenössischen Religionstheologie, die Religion als »Deutung von Erfahrung im Horizont der Idee eines Unbedingten« (Ulrich Barth) begreift, geltend gemacht werden, dass Religion kein bloßes Deutungsphänomen, nicht nur ein »diskursiver Tatbestand« (Joachim Matthes) ist, sondern eben eine »Wirklichkeit«, die »Wirklichkeit des Heiligen« (13). Nur mit der Kategorie des Heiligen, »die biblisch fundiert ist und religionsphänomenologisch definiert werden kann«, lasse sich daher angemessen erfassen, »was sich in der religiösen Praxis als Wirklichkeit und Wirkungsmacht realisiert. ðGottÐ ist nicht nur eine Chiffre und das Beten nicht nur eine symbolische Handlung« (20). Gegenüber einer allzu einseitigen Konzentration der Religionstheorie auf das Moment der Deutung, auf den Akt des Bewusstseins, in deren Folge es zu einer Entmächtigung, ja einer Verharmlosung der religiösen Erfahrung komme, fordert der Vf., dass die »Wort- und Bewusstseinsorientierung Š, um religiöser Erfahrung gerecht zu werden, [zwar] nicht überwunden, aber im Blick auf leibliches Dasein vertieft werden« (18) müsse. Es gebe nicht bloß geistige sondern vor allem auch leibhafte Erfahrungen eines göttlichen Einflusses, dem auf Seiten des Menschen ein spezifisches Resonanzgeschehen entspreche, welches in der Weise »einer minimalen oder umfassenden Konversion« (20 f.) Gestalt gewinne.

In engem Zusammenhang damit dringt der Vf. nachdrücklich und mit einem gewissen Recht auf die Wiedergewinnung der theologischen Kategorie der Heiligung. Er verschweigt die damit verbundenen Gefahren und Missdeutungen nicht (vgl. 15), zeigt sich aber davon überzeugt, dass im Blick auf die wirklichkeitsbestimmende »Kraft des Evangeliums, die Glauben schafft (Röm 1,16)« immer auch dessen »erfahrbare Gestalt« (19) ­ als Heiligung des Lebens ­ Gegenstand praktisch-theologischen Interesses sein müsse. Denn in der Heiligung werde ein »Erfahrungsraum« eröffnet, »der gute Werke, aber darüber hinaus und vor allem ein segensreiches Leben ermöglicht« (15).

Dieser gelebte Segen sei keinesfalls auf das individuelle Lebensglück, auf die Bewahrung vor kleineren und größeren Katastrophen beschränkt, sondern wolle immer auch in seinen sozialen und politischen Dimensionen bedacht und realisiert sein. Es ist ganz wesentlich die Faszination der Alternative, also die ­ freilich nirgends gesetzliche ­ Vorstellung einer Verbesserlichkeit der Welt, die den Vf. dazu motiviert, die Aufmerksamkeit des Lesers auf das rekreative und umwandelnde Potenzial der religiösen Erfahrung zu lenken: »Menschliches Leben wird verändert durch die Macht eines Anderen. Das Netz individueller und kollektiver Strömungen, das uns durchzieht, wird gereinigt und vitalisiert durch die leiblich gespürte Erfahrung einer spezifischen Influenz.« (25) Die homiletischen Konsequenzen dieser Einschätzung lauten dann dahin, dass der »Einfluss von machtvollen Worten« und die »Konversion, die von einer verbalen Infektion in Gang gesetzt wird, Š nicht durchweg an Bewusstseinsprozesse gebunden« seien. Denn im religiösen Verstehensprozess, so der Vf., »verliert ein Mensch seinen Standpunkt, ohne es zunächst zu bemerken. Er kann das, was ihm geschieht, nicht erklären. Er muss sich in das, was ihn bewegt, nicht einfühlen. Er ist in den Bannkreis einer machtvollen Realität geraten, deren Ein-Fluss ihn ohne sein Zutun durchströmt« (139). Darum auch besteht die Predigtvorbereitung nach Ansicht des Vf.s in erster Linie nicht in der hermeneutischen Arbeit am Text bzw. an der »homiletischen Großwetterlage« (Ernst Lange), sondern darin, »sich dem Einfluss des Textes Š auszusetzen« (109). Von der Predigt selbst verlangt der Vf. schließlich, »dass sie das Kraftfeld, das durch das Lesen des Textes im Raum steht, ihrerseits nicht zerstört« (115).

Welchen nicht bloß symbolisch-ästhetischen, sondern wirklichkeitsgenerierenden und -definierenden Stellenwert der Vf. der Rezitation von »heiligen« Texten zuerkennt, wird deutlich, wenn er einen Vortrag über das Böse allen Ernstes mit einer trinitarischen Formel beginnt. Denn, so der Vf., wer »zu diesem Thema das Wort ergreift, wer sich auf dieses Machtfeld einlässt, der muss sich schützen, weil ein gefährlicher Einfluss droht« (49). Darin dokumentiert sich die Einsicht, dass religiöse Symbole nicht nur der Artikulation einer bestimmten Erfahrung dienen, sondern auch selbst Empfindungen, Gefühle, Erfahrungen zu evozieren vermögen. Die apotropäische Wirkung der trinitarischen Formel ðfunktioniertÐ allerdings nur unter der Voraussetzung, dass sich der Redner und sein Auditorium über den Sinn dieser Formel im Klaren sind, andernfalls würde es bei einem bloßen Hokuspokus bleiben.

Gelegentlich erweckt der Vf. freilich den Eindruck, als teile er diese hermeneutische Voraussetzung durchaus nicht, als traue er dem Wort bzw. der sakramentalen Handlung auch eine vom Sinnverstehen völlig unabhängige, gewissermaßen magische Wirkung zu, etwa wenn er erklärt, dass man bei der significatio crucis »unter den Einfluss energetischer Kräfte« gerate, »die günstige oder schädliche Wirkungen mit sich bringen« (121), oder wenn er im Blick auf das Abendmahl unter Verweis auf 1Kor 11,29 ff. von einem »gefährliche[n] Akt der Nahrungsaufnahme« (157) spricht oder wenn er wenig später ganz allgemein konstatiert: »Mit ðRisiken und NebenwirkungenÐ muss rechnen, wer das Göttliche nicht als Symbol und Chiffre, sondern in Wort und Sakrament, in Symbolen und Ritualen als Realität erfährt.« (168) Doch solche Textpassagen sind nichts anderes als wohlkalkulierte Provokationen.

Es geht dem Vf. aufs Ganze gesehen keinesfalls um die Proklamation einer (Praktischen) Theologie jenseits der Hermeneutik, sondern darum, die Aufmerksamkeit für die sinnlich-leibhafte Dimension des Religiösen zu steigern. Zu diesem Zweck adaptiert er die Gefühlstheorie des Kieler Phänomenologen Hermann Schmitz, dessen philosophisches Werk mit Hilfe des Begriffs der Atmosphäre die Auffassung zu plausibilisieren sucht, dass Gefühle wesentlich durch die spezifischen Einflussfelder generiert werden, denen Subjekte ausgesetzt sind: »Atmosphären sind transmentale, diffuse Gebilde, die einen umfassen und umfließen, die man aber durchaus nicht dingfest machen kann.« (27)

In religionsphänomenologischer Hinsicht sieht der Vf. hierin die Kritik Rudolf Ottos an Schleiermachers Gefühlsbegriff aufgenommen und weitergeführt, wonach gegenüber Letzterem daran festzuhalten sei, dass »Gefühle Š nicht primär in einer Selbsterfahrung des betroffenen Subjekts« bestehen, sondern »spezifische Reaktionen auf Einwirkungen von außen« (26) darstellen (dass Schleiermachers ðRedenÐ genau diesen Tatbestand allerdings ebenfalls artikulieren, wenngleich dem neuzeitlich-aufgeklärten Denken entsprechend als Deutungsvollzug des religiösen Bewusstseins, bleibt leider außer Acht). »In religiösen Erfahrungen werden Menschen erleuchtet, ergriffen, erfasst und überwältigt, und zwar von transpersonalen und transsozialen Mächten.« (26) Der Objektbezug des (religiösen) Gefühls sichert gleichsam die ðRealitätÐ des Religiösen, die nicht nur eine geistige ­ bloß symbolische ­ Wirklichkeit, sondern auch eine leibhaft erfahrbare Wirklichkeit sei. »Gelebte Religion besteht in gespürter Erfahrung.« (25) Darum müsse die Phänomenologie des Geistes und die Phänomenologie der Sprache durch eine Phänomenologie der Leiblichkeit ergänzt werden (vgl. 44). Denn wer »von einer numinosen Atmosphäre ergriffen wird, der erlebt zunächst eine körperintensive Durchflutung« (32). Die sprachlich-symbolischen Deutungen schließen sich daran an, sind aber nicht das Primäre.

Die Inkommensurabilität der religiösen Erfahrung wird vom Vf. näher dahingehend beschrieben, dass das »Widerfahrnis einer unheimlichen Macht, die in den Augenblicken der Beseligung oder Bestürzung ins eigene Leben einbricht, Š die Grenze zwischen Bewusstsein und Unbewusstem, zwischen dem Ich und der Welt, zwischen der Gegenwart und der Ewigkeit aufheben« könne. Da es aber »um wirkliche Widerfahrnisse« gehe, könne man »diese Augenblicke weder institutionell organisieren noch theologisch rationalisieren noch ästhetisch inszenieren« (37). Die Stärke der phänomenologischen Zugangsweise liegt mithin in der Beschreibung dessen, was als religiöse Erfahrung gedeutet werdenkann, aber nicht muss.

In diesem Zusammenhang fällt negativ ins Gewicht, dass der Vf. seine Betrachtungen allzusehr auf die kirchliche Religionspraxis konzentriert. Es findet damit der Sachverhalt zu wenig Berücksichtigung, dass solche Erfahrungen der Aufhebung der Grenze von Ich und Welt heutzutage vielfach jenseits der Kirchen und ihren religiösen Praktiken gemacht werden. Wo der Vf. auf religionsäquivalente Erfahrungsfelder der Gegenwartskultur Bezug nimmt (z. B. Fußball, 92 ff.), geschieht dies in erster Linie zum Zwecke der Unterscheidung des »religiösen flow von den sportlichen und politischen und ästhetischen Analogien« (32). Das Unterscheidungsmerkmal, welches der Vf. dabei ausmacht, offenbart die Widersprüchlichkeit seiner antikulturprotestantisch ausgerichteten Religionsphänomenologie. Die Differenz lasse sich nämlich nicht anhand der »Körpererfahrung an sich« ausmachen, sondern nur durch die Identifizierung der »Macht, die das Körpergeschehen auslöst. Das kann durch die Kreativität singender Fußballfans in Gang gesetzt, durch einen Kreativitätsschub im Rahmen ästhetischer Produktion oder durch jene göttliche Macht ausgelöst werden, die die mystische Doxologie als ein immenses Flussgeschehen erlebt und verehrt« (32). Die göttliche Macht ðgibtÐ es freilich nicht, wie es die Kreativität von Fans und Künstlern gibt, sie verdankt sich vielmehr, wie der Vf. es ja selbst beschreibt, der Deutungstätigkeit des religiösen (doxologischen) Bewusstseins. Darum auch wird man der »Differenz zwischen diesen Einflussfeldern« in der Tat dadurch ansichtig, dass »man auf den Geist achtet, der in der Begeisterung wirksam wird« (101), also dadurch, dass man es unternimmt, den logos, der sich in und durch solche Begeisterungen artikuliert, theologisch zu interpretieren und seine Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung mit dem christlichen Glauben, wie er sich von seinen biblischen Traditionen her schreibt, zu identifizieren. Die Kunst der Unterscheidung ist die Kunst der Interpretation und Inbeziehungsetzung sprachlich artikulierter Deutungen von Erfahrungen. Oder anders gesagt: Die Hermeneutik gelebter Religion erhebt die Wirkungslogik religiöser Erfahrung ausschließlich mit Hilfe einer Interpretation ihrer Deutungsvollzüge. Dieser Einsicht kann sich letzten Endes auch eine Praktische Theologie nicht entziehen, die ihr besonderes Augenmerk auf die leibhaft-vorreflexiven und individuell-unmittelbaren Erfahrungszusammenhänge richten will. Denn diese sind und bleiben dem interpretierenden Zugriff entzogen. Genau dadurch sind sie, was sie sind.