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Ausgabe:

September/2006

Spalte:

1045–1047

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Grillo, Andrea:

Titel/Untertitel:

La nascita della liturgia nel XX secolo Saggio sul rapporto tra Movimento Liturgico e (post-)modernità

Verlag:

Assisi: Cittadella 2003. 223 S. gr.8° = Leitourgía. Sezione Storico-Pastorale. Kart. Euro 20,00. ISBN 88-308-0752-4.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Die (katholische) italienische Liturgiewissenschaft hat in der letzten Zeit neben der historischen und praktischen Ausrichtung einen Schwerpunkt in der Liturgietheologie oder besser in der liturgischen Theologie gefunden. Damit ist nicht lediglich die Theologie des Gottesdienstes als eines bestimmten theologischen Bereiches gemeint, sondern eine Theologie, die die Offenbarung »sub specie celebrationis« thematisiert (16, Anm. 4). Die Bedingungen der Möglichkeit theologischer Rede überhaupt werden von der Feiergestalt, von der Ritualität (»ritualità«) her zu beschreiben gesucht. Die liturgische Theologie ist damit die jüngste theologische Disziplin, die sich jedoch auf die älteste Form der christlichen Praxis bezieht (143). Einer der wichtigsten Vertreter dieser Richtung ist (neben G. Bonaccorso und P. Sequeri und der »Mailänder theologischen Schule«) der am Pastoraltheologischen Institut in Padua sowie am Päpstlichen Liturgieinstitut San Anselmo in Rom lehrende Vf. des vorliegenden Buches, der bisher mit Studien zur Liturgischen Bewegung des 20. Jh.s und zur liturgischen Fundamentaltheologie sowie als Übersetzer ins Italienische (u. a. von Werken K. Barths, O. Casels, M. Festugières und W. Herrmanns) hervorgetreten ist. Auch das vorliegende Buch führt vielfach das Gespräch mit evangelischen Autoren (E. Jüngel, G. Ebeling, D. Bonhoeffer und immer wieder K. Barth: 9.14.97.99.186.200).

In sechs Kapiteln geht es um die »liturgische Frage« und die Entstehung der Liturgiewissenschaft (1. Kapitel), um die Liturgietheologie der Liturgischen Bewegung (2. Kapitel), die rituelle Erfahrung als Thema der (Fundamental-)Theologie (3. und 4. Kapitel), um die liturgische »Initiation« (5. Kapitel) und um einen Ausblick auf eine mögliche 3. Phase der Liturgischen Bewegung (6. Kapitel). Im Anhang finden sich zwei Kapitel zu C. Vagaggini und C. Marmion, die aus akademischen Gedenkreden in San Anselmo im Jahre 2000 hervorgegangen sind und zum Teil höchst anregende Einsichten zur theologischen Gegenwartslage enthalten (so etwa zur vierfachen Wende der letzten Jahrzehnte, die als die antiplatonische, strukturalistische, die neuhebräisch-negativ-dialektische und als die säkularisiert-trinitarische Wende beschrieben wird, 204 f.).

Die vom Vf. in anderer Weise schon früher vorgetragene (A. Grillo, Introduzione alla teologia liturgica. Approccio teorico alla liturgia e ai sacramenti cristiani, Padua 22003 [1999]) Hauptthese lautet: Die liturgische Theologie ist als eine Form von Fundamentaltheologie zu verstehen, die auf Grund der Veränderungen im Verlauf der Moderne erst im 20. Jh. entstehen konnte und entstehen musste: Erst jetzt wurde die Liturgie zum Gegenstand unmittelbar theologischen Interesses (181). Solange Ritus und Kultus selbstverständlich waren, musste man sie als Voraussetzung des Glaubens nicht eigens thematisieren. Die Liturgische Bewegung ist dem Vf. zufolge gerade auch in ihrer Gegenbewegung zur Moderne eine Erscheinung der Moderne, eine »typische Frucht der ðSpätmoderneÐ (oder Postmoderne)«, die nach einem Weg sucht, »die Möglichkeit von Tradition im Rahmen einer posttraditionalen Welt neu zu erschließen« (10, Anm. 4). Angemessen betrieben wird diese jüngste Art von Theologie dann, wenn sie nicht einfach einen romantisierenden Rückgang zu älteren Verstehensweisen ­ sei es des Mittelalters oder sei es der alten Kirche ­ propagiert, sondern wenn sie das eigene ­ unreflektierte oder reflektierte ­ Verhältnis zur Ritualität als hermeneutische Voraussetzung und damit das eigene Verhältnis zur (Post-)Moderne in den Blick bekommt. Auch liturgisch und liturgietheologisch gibt es keine Rückkehr in alte Zeiten ­ weil die anderen Zeiten niemals so waren, wie wir sie im nachaufklärerischen Rückblick meinen phantasieren zu können. Aus dieser Sichtweise ergeben sich mehrere Konsequenzen.

Die Liturgiewissenschaft als fundamentale theologische Disziplin kann nicht lediglich historisch-philologisch vorgehen. Sie darf nicht ohne die Auseinandersetzung mit Religionswissenschaft und Kulturanthropologie (dazu s. die Auseinandersetzung u. a. mit R. Messner, 65­68), sondern kann nur interdisziplinär betrieben werden (15). Hier gilt die Einsicht: Wenn die moderne Theologie »den Anspruch Gottes gegen den Anspruch des Menschen meint stark machen zu müssen, dann wird sie gerade so zum Opfer des modernen Denkens, welches die Ansprüche von Mensch und Gott einander entgegensetzt« (42). Zustimmend heißt es hingegen zu G. Bonaccorso: »Er schämt sich nicht des Menschen und schämt sich gerade deswegen auch nicht des Evangeliums« (120).

Wie schon in früheren Veröffentlichungen unterscheidet der Vf. in der Theologie eine erste und eine zweite anthropologische Wende. In der ersten, wofür in vorzüglicher Weise das Werk K. Rahners steht, folgte man einem abstrakt-transzendentalen Modell von Anthropologie und vergaß die sprachlich-symbolischen, die sozialhistorischen und die körperbezogenen Aspekte von Liturgie und Theologie. Eben diese gilt es nun in einer »zweiten anthropologischen Wende« fundamentaltheologisch fruchtbar zu machen (37.96).

Ebenso fortsetzungswürdig (wie fortsetzungsbedürftig) ist laut dem Vf. die aus der Liturgischen Bewegung hervorgegangene Liturgiereform. Die liturgische Frage umfasst mehr als die Liturgiereform ­ die Letztere ist nur eine mögliche Antwort auf die liturgische Frage (23). Vielfach verstand man zudem unter der »Reform« ­ bei Verkürzung des von der Liturgischen Bewegung Gemeinten ­ nur eine Reform der Riten anstatt einer umfassenden Hinführung zum Ritus als Dimension des Glaubens. In diesem Zusammenhang rekurriert der Vf. mehrfach auf das Programm der »Liturgischen Bildung« von Romano Guardini (22 f.25 u. ö.). Gerade weil die Liturgie kein Instrument ist, um die Lehre zu transportieren, muss zur Liturgie durch Bildungsprozesse hingeführt werden (60.142 u. ö.). Liturgiereform ist dabei nicht vor allem Reform der Liturgie, sondern Reform von Seiten der Liturgie (71 ff.147) ­ doch beides darf nicht als Gegensatz verstanden werden (171). Der Mangel an unmittelbarer liturgischer Erfahrung jedenfalls »ist eines der großen Probleme, das die Kirche im 3. Jahrtausend erwartet« (180).

Bei allen bleibenden konfessionellen Unterschieden ist der evangelische Leser über die große Nähe der Überlegungen zu Fragestellungen in der evangelischen Diskussion überrascht. Dieses Urteil bezieht sich nicht auf die vom Vf. genannten evangelischen Autoren und auch nicht nur auf die Aufmerksamkeit für das Ritual, das auch evangelisch weiter Konjunktur hat. Noch wichtiger ist die Konzeption der Theologie von praktischen Vollzügen her, also eine Praktische Theologie, die diesen Namen wirklich verdient, indem sie sich nicht lediglich als »theologia applicata« versteht, sondern als praktische Fundamentaltheologie, die die Bedingungen der Möglichkeit des Glaubens nicht von Dogmen her, sondern von Gestaltungs- und Bildungsvorgängen her zu beschreiben sucht. Die Liturgik ist nicht primär Denken, sondern handelndes Denken und denkendes Handeln, sie ist nicht primär »logie«, sondern »urgie« (126). Die liturgische Theologie, so der Vf., »ist nichts völlig anderes als die systematische, aber sie ist diejenige Disziplin, die es der systematischen Theologie erlaubt, sich zu verändern: diese wird dabei keine ganz andere werden, aber eine, die sich verändert, um authentischer sie selbst sein zu können« (100).