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Ausgabe:

September/2006

Spalte:

1031–1033

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Mourkojannis, Daniel:

Titel/Untertitel:

Ethik der Lebenskunst. Zur Nietzsche-Rezeption in der evangelischen Theologie.

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 2000. 231 S. 8° = Studien zur systematischen Theologie und Ethik, 23. Kart. Euro 25,90. ISBN 3-8258-4674-1.

Rezensent:

Johann Figl

Die Kieler Dissertation untersucht in ihrem Hauptteil (B) die Nietzsche-Rezeption in der evangelischen Theologie. Vorangestellt ist ein erster Teil (A), in dem es um die »allgemeine Rezeption« der Philosophie Nietzsches im deutschen Sprachraum seit dem Tod des Philosophen geht, und zwar insbesondere in Hinsicht auf die neuere aktuelle philosophische Ethik- und Sozialethik-Diskussion. Ein letzter kurzer Teil (C) ist mit »Nietzsches Hinterlassenschaft« überschrieben und wendet sich dem so genannten »christlichen Nietzscheanismus« zu. Die leitende Perspektive in den beiden Hauptteilen ist aber nicht allein die ethische Thematik, sondern ­ wie es in den Überschriften jeweils heißt ­ die »ästhetisch-ethische Lebensform«. Im Anschluss an Nietzsche wird hier Moral als »Mittel der Selbst-Verschönerung« und der Verschönerung des Menschen überhaupt angesehen (vgl. 16); ein Schwerpunkt ist auf die »Dialektik von Kunst und Leben« gelegt (vgl. ebd.).

Die philosophische Rezeption von Nietzsches ästhetisch-ethischem Grundkonzept wird in drei Etappen unterteilt: zunächst in die frühe philosophische Rezeption, wobei kurz auf teils weniger bekannte Autoren, z. B. auf Julius Zeitler und dessen Werk ðNietzsches ÄsthetikÐ, eingegangen wird, aber auch auf den bekannten Entwurf von Ernst Bertram ðNietzsche ­ Versuch einer MythologieÐ, in dem es vor allem um den Künstlerphilosophen ging (vgl. 26 f.). Daran anschließend wird die so genannte »mittlere Phase« der philosophischen Rezeption anhand der bedeutenden Werke von Heidegger, Jaspers und Löwith dargestellt, aber auch Bäumler kommt in diesem Kontext zur Sprache. Den dritten Abschnitt bildet die Nietzsche-Interpretation seit dem Beginn der 60er Jahre des vergangenen Jh.s, die schwerpunktmäßig auf der Ausgabe von Colli und Montinari beruht; exemplarisch wird Wolfgang Müller-Lauter behandelt (33 ff.). Im Anschluss daran kommen vier Grundpositionen der neueren Diskussion von Nietzsches Ethik zur Sprache (Volker Gerhardt, Werner Stegmeier, Wilhelm Schmid, Urs Marti), bei Schmid wird Ethik als Lebenskunst im Anschluss an Nietzsche verstanden (vgl. 55 f.).

Der zweite Teil, der Hauptteil der Arbeit, wendet sich vor dem aufgezeigten Hintergrund der theologischen Rezeption zu, wobei aber kaum Verbindungslinien zwischen dem philosophischen und dem theologischen Rezeptionsweg hergestellt werden. Auch hier wird wiederum in chronologischer Weise vorgegangen. Einleitend werden die Rezeptionsgruppen vor Augen gestellt: schwerpunktmäßig sind das die Liberale Theologie, die Dialektische Theologie, das Neuluthertum und die Lutherrenaissance (vgl. 86 f.). Als Repräsentant der Liberalen Theologie wird Troeltsch genannt. Nach Troeltsch handelt es sich bei Nietzsche um eine radikale atheistische Diesseits-Ethik, die er aber nicht einseitig ablehnt. Er interpretiert sie eher als ein Selbständigwerden des modernen Moralempfindens (vgl. 99). Bei der Dialektischen Theologie wird Barths Nietzsche-Rezeption dargestellt. Hier werden auch interessante biographische Perspektiven angesprochen, so z. B. dass Karl Barths Vater als Schüler auf dem Basler Pädagogikum auch Nietzsche kennen gelernt hat (vgl. 124, Anm. 208). Eine Parallele zwischen Barths Theologie und Nietzsches Geschichtsbild wird darin gesehen, dass bei beiden Autoren der Mensch und seine Geschichte überwunden werden müsse, um zu einer unbedingten Daseinsbejahung kommen zu können (vgl. 134). Interessant sind auch die Anspielungen in der Wortwahl, wo der Vf. meint, dass Barths Behauptung »Gott ist treu« eine deutliche Anspielung auf Zarathustras Aufruf »Seid der Erde treu, meine Brüder« sei (vgl. 135). Ähnlich wird hier auch Gottes Güte als »über Gut und Böse« stehend dargestellt (vgl. 137). In diesem Sinn hat Barth kritische Anliegen Nietzsches in die Theologie integriert. Unter den Positionen des Neuluthertums und der Lutherrenaissance gibt es eine Reihe von Theologen, die sich mit Nietzsche auseinander gesetzt haben, u. a. schon der lutherische Theologe Julius Kaftan, der Nietzsche persönlich gekannt hat. Er stellt der Herrenmoral ein »Herrentum durch den Glauben« als die bessere Alternative gegenüber (148). Am ausführlichsten wird die Position von Emanuel Hirsch dargestellt, bei dem das ethische Subjekt gerade nach der Kritik Nietzsches am Moralsubjekt erneut Ausgangspunkt für eine christlich fundierte Ethik sein kann (vgl. 153 und 161). Die genannten Hauptpositionen zusammenfassend schreibt der Vf., dass »Troeltsch, Barth und Hirsch somit als die eigentlichen Rezipienten der Moralkritik Nietzsches« hervortreten und »speziell daraufhin noch einmal unter stärker systematischer Perspektive zu befragen« sind (vgl. 162). Im Hinblick darauf werden sie im Abschlusskapitel zum theologischen Hauptteil hinsichtlich der Herausbildung einer christlichen Lebenskunst dargestellt (vgl. 162 ff.).

Den Abschluss des Buches bildet ein kurzes Kapitel zum so genannten »christlichen Nietzscheanismus«. Der Religionsphilosoph und -theologe Don Cupitt erblickt »im dionysischen Ja zu unhintergehbarer Diesseitigkeit des Lebens die Bedingung und Ermöglichung christlicher Lebensbejahung« (194). Dieser Autor führt hin bis zu einer »Identifikation von Christus und Dionysos«, die eine »radikale Revision christlicher Dogmatik und Ethik [fordert]« (198).

Die Arbeit untersucht eine interessante Linie der Nietzsche-Rezeption im 20. Jh., und sie ist ein wichtiger Beitrag zum Dialog zwischen Theologie und der Philosophie Nietzsches. Von dem gewählten Schwerpunkt im Bereich der Rezeption her ist es auch verständlich, dass die grundlegende Frage des Verhältnisses zwischen Moral und Ästhetik bei Nietzsche selbst nicht ausführlicher erörtert wird und auch dessen Ambivalenzen nicht näher thematisiert werden, obwohl es von Bedeutung gewesen wäre.