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Ausgabe:

September/2006

Spalte:

1028–1031

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kleffmann, Tom:

Titel/Untertitel:

Nietzsches Begriff des Lebens und die evangelische Theologie. Eine Interpretation Nietzsches und Untersuchungen zu seiner Rezeption bei Schweitzer, Tillich und Barth.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2003. XVI, 633 S. gr.8° = Beiträge zur historischen Theologie, 120. Lw. Euro 114,00. ISBN 3-16-147798-7.

Rezensent:

Hans Hübner

Diese Nietzsche-Arbeit, eine Göttinger Habilitationsschrift, ist eine sorgsam mit inhaltlicher und methodischer Kompetenz gefertigte und für alle künftige Nietzsche-Forschung unverzichtbare Studie. Ihr Titel greift weit aus: Leben ist immerhin für Nietzsche ein, wenn nicht der Grundbegriff seines Denkens. Und für die Nietzsche-Rezeption in der evangelischen Theologie hat K. mit Schweitzer, Tillich und Karl Barth wichtigste Autoren ausgewählt. K. bietet mit dem für Nietzsche zentralen Begriff des Lebens einen hervorragenden Zugang zu seinem Denken. Nach der Exegese neutestamentlicher Texte zum Leben (gut und diskussionswürdig z. B. für Joh 1,1 ff.) analysiert er alle in Frage kommenden Schriften Nietzsches sehr ausführlich. Um K.s Nietzsche-Verständnis in seiner umfangreichen Monographie von ca. 600 Seiten beurteilen zu können, muss ich auswählen. Aus der theologischen Nietzsche-Rezeption wähle ich Tillich aus.

K. vermittelt sachgemäß die Lebens-Konzeption Nietzsches, weil er in hermeneutischer Intention intensiv auf Detailfragen seiner Schriften eingeht, diese aber stets im Horizont der jeweiligen Schrift interpretiert ­ getreu Diltheys hermeneutischem Postulat, das Ganze aus den Details, diese aber aus dem Ganzen zu verstehen. Gut, dass er der frühen Schrift »Von der Geburt der Tragödie« so große Aufmerksamkeit schenkt; denn sie ist das Fundament seines sich in knapp 20 Jahren entwickelnden Denkens, auch im Blick auf Dionysos, den Gott des Lebens: Leben muss erlebt werden! K. geht ausführlich auf diese Schrift ein, »[d]a die ðMysterienlehreÐ von Dionysos eine Brücke oder Klammer zwischen der ðGeburt der TragödieÐ und den späten Schriften (seit 1886) bildet« (60). Wagners Musik, mit Schopenhauers Philosophie gleichursprüngliche Erkenntnisquelle, »reizt zum gleichnissartigen Anschauen der dionysischen Allgemeinheit« (64; Zitat Nietzsche); die Erfahrung des dionysischen Allgemeinen, der Wahrheit des Lebens, geschieht in Unmittelbarkeit. Die Zeit-Problematik ist relevant: Vergangenheit und Gegenwart werden eins; »die metaphysisch als Gehalt des vergangenen und künftigen tragischen Mythos vorausgesetzte dionysische Wahrheit des Lebens [muss] aber auch in der eigenen Geschichte als gegenwärtig aufgewiesen werden« (65; Zitat Nietzsche, Kursiven hier und in nachfolgenden Zitaten teils durch K., teils durch Nietzsche, teils durch mich).

Die Historienschrift stellt erneut, jedoch aus anderer Perspektive, Gedanken der Tragödien-Schrift vor. Gemeinsam ist beiden Schriften die betonte Hermeneutik des Lebens. Bezeichnend ist schon die Überschrift: »Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben«. Zitate aus Nietzsche hat K. gut ausgewählt und interpretiert, z. B.: Es sei »die plastische Kraft eines Menschen, eines Volkes, einer Cultur Š aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben«; dazu K.: »was sich nicht aneignen läßt, ist zu vergessen« (130). Einige seiner bezeichnenden Überschriften zu dieser Schrift: Das menschliche Wesen liegt im Verhältnis von bewusster Vergangenheit und gegenwärtigem Leben ­ Die Zweideutigkeit des Begriffes des Historischen in der Perspektive des Lebens ­ Die doppelte Wahrheit von Wissen (Wissenschaft des Werdens) und Leben. Neben der Historien-Schrift steht »Wagner in Bayreuth«. Dazu treffend K. (196 f.): »Zeigten sich schon in der ðGeburt der TragödieÐ mit der Gestalt des Dionysos, dem als tragischem Helden erscheinenden Gotte, christologische Züge, so geschieht dies hier [im »Ring des Nibelungen«] nun, im Zusammenspiel von Mensch und Gott, unter sozusagen verkehrten soteriologischen Vorzeichen: Der alte Gott findet sich von seiner schuldigen, d. h. an sich gebundenen Selbstigkeit erlöst, indem er sich väterlich mit dem Menschen identifiziert, der stellvertretend den ðFluchÐ der von ihm unschuldig gewonnenen Macht erleidet, den Tod als ihren Sold, der zugleich die Auferstehung des freien Gottes bedeutet Š«. So ist Siegfried als freier und furchtloser Mensch der, der im Kampf wider die göttliche Ordnung die dem Gotte versagte Tat vollbringt, so dass der Gott immer größer wird, indem er auf Macht verzichtet. Wie aber ist das Große konkret denkbar? Denkbar ist es als »der Entwurf des göttlichen Bildes des Menschen ­ zuvor aber, im Übergang dazu, eben die Lebens-Philosophie, das Sich-Einsetzen für die Wahrheit des Lebens, welches sie als diese Form im Widerspruch zur kausal [!] bestimmten geschichtlichen Gegenwart auf den Begriff bringt« (197).Zu »Die fröhliche Wissenschaft«: Nach K. ist nicht die Wirklichkeit an sich, weil Chaos, konkreter Gegenstand des Erkennens. »Vielmehr ist der einzige Gegenstand des Erkennens der geschichtliche Gegensatz von Wirklichkeit an sich und der Welt als wahrgenommener, erlebter, benannter, bedeutungsvoller«. Denn »[d]as Erkennen der Wirklichkeit an sich besteht nur im Erkennen des Scheins dieser Welt als Funktion des Lebens« (236). Also ist Gott der Inbegriff des ererbten Scheins, und Inbegriff dieses Erkennens ist der Tod Gottes. K. konnte somit zeigen, dass es in Nietzsches Philosophie entschieden um Erkennen geht. Von hier nun der Blick auf die Schrift, in der ich mit vielen Nietzsche-Interpreten dessen Hauptwerk sehe (Nietzsche und das Neue Testament, Tübingen 2000, 189; auch 262): »Also sprach Zarathustra«.

Dass die davor stehenden Kapitel des Buches Lob verdienen, wurde deutlich. Doch sind K.s Ausführungen über die Zarathustra-Schrift von besonderer Qualität. Und ich sage das sehr bewusst auch angesichts der weiteren Ausführungen, in denen K. seinen Dissens mit mir zur Sprache bringt. Zunächst aber: In glänzender Weise führt er seine Leser in die Zarathustra-Schrift ein. Vom Prinzip des Lebens her, nämlich des Lebens als schöpferischer Selbst-Überwindung im Moment des das Leben verneinenden Erkennens, exponiere die Gestalt des wandernden Zarathustra in seinem Lehren, Hoffen, Fordern, Prophezeien, Dichten und Selbstgespräch das Denken Nietzsches. Richtig (262): »Seine Gestalt exponiert also nicht nur ein Denken des Lebens, sondern entwirft das so gedachte Leben selbst.« Und richtig ist auch (263): »Zarathustra ist vor allem der Lehrer des (auf den Tod Gottes antwortenden) Übermenschen und der ewigen Wiederkunft.« Als Lehrer sei dieser stets »Fürsprecher des Lebens« und als solcher vertrete er das Leben, wenn es sich zur Selbst-Überwindung entscheiden müsse. Es trifft zu, wie K. sagt, dass Zarathustra als universale Erlösergestalt entworfen ist. Er stellt dann die wichtige, ja entscheidende Frage, warum Nietzsche seine »Lehre in den Begriffen des christlichen Gottesverhältnisses und ihre Gestalt durch Elemente des Evangeliums, d. h. der Geschichte Christi als Geschichte des menschgewordenen Gottes, ausführt« (265). Dass K. den Existenz-Verhalt betont, wonach Nietzsche hier die Sprache und den Sprachduktus eines neutestamentlichen Evangeliums aufnimmt (263), ist zu begrüßen. Denn hiermit kommen wir an den Kern der Nietzsche-Problematik. Es sei schade, sagt er in Anm. 33, dass ich gerade in diesem Zusammenhang nur wenig sage. Diese meine Tendenz entspreche aber meiner »harmonisierenden Tendenz insgesamt«.

Ich bedaure diesen Dissens nicht. Denn es ist der Widerspruch des Autors eines guten Buches, für den derjenige, dem widersprochen wird, nur dankbar sein kann, vor allem dankbar, wenn solches an neuralgischer Stelle geschieht. Auch der vielleicht nicht zutreffende Widerspruch eines Denkenden führt in die Diskussion und treibt so das Sachproblem weiter. K. erleichtert mir als dem Rezensenten durch seine Kritik die Aufgabe, die meine zu formulieren. Ich gebe K. zunächst Recht, dass der Zusammenhang bei Nietzsche in der Tat »den antichristlichen Impetus Zarathustras« verdeutlicht. Habe ich aber wirklich zu wenig zu der kontroversen Frage gesagt? Denn es ist ja auch meine These, dass Nietzsche zwar unbestreitbar der fanatische Vertreter des Atheismus war, doch gerade mit seinem fanatischen Atheismus ­ und daran hängt das Problem des Menschen Nietzsche ­ hatte er seine existentiellen Schwierigkeiten. Man schaue in Aphorismus 125 in »Die fröhliche Wissenschaft«, wo der tolle Mensch sich und die andern anklagt, Gott getötet zu haben. Er leidet unter den nihilistischen Folgen dieser Selbstanklage: »Stürzen wir nicht fortwährend? Š Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an?« Natürlich kennt auch K. den Aph. 125, er stellt ihn aber in einem Satz mit Aph. 343 zusammen (237 f.), also zugleich der Schrei des Entsetzens »Gott ist todt!« und »Š wir Philosophen und ðfreien GeisterÐ fühlen uns bei der Nachricht, dass der ðalte Gott todtÐ ist, wie von einer neuen Morgenröthe angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit Š, ­ endlich erscheint uns der Horizont wieder frei Š«. Dieser Aph. 343 ist unbestreitbar der Jubelruf über den Tod Gottes. Aber darf man bei einem Mann wie Nietzsche, der sich oft genug selbst widersprochen hat, weit auseinander liegende und im Ton sich total unterscheidende Aussagen als inhaltliche Einheit bringen? Gerade der mit der Gottesfrage Ringende ist doch der lebendige Nietzsche! Meine Frage ­ ich kann sie hier nicht diskutieren ­ lautet: Könnte es sein, dass der entscheidende Unterschied zwischen unseren Nietzsche-Bildern darin gründet, dass bei K., dem seine hermeneutische Intention nicht abgesprochen werden darf, das existentiale Moment eine andere Rolle spielt als bei mir, der ich Nietzsches Selbstaussagen im Sinne der existentialen Interpretation Bultmanns zu verstehen suche?

Nach Ausbruch seiner Krankheit sah sich Nietzsche als leidender Dionysos. Kann man nicht auch diesen Nietzsche von Aph. 125 her verstehen? Ich meine ja.

Aus der Geschichte der Nietzsche-Rezeption wähle ich K.s Tillichs-Interpretation aus, Überschrift: »Paul Tillich: Aufnahme des ðDionysischen [!] in die christliche DogmatikЫ. Denn gerade dessen eigene existentielle theologische Entwicklung ist mit seinen existentiellen Nietzsche-Studien engstens verflochten ­ von K. hervorragend dargestellt! Ich kann nur skizzieren: Schon von seinen Schelling-Studien her wurde Tillich die »Notwendigkeit einer grundlegend neuen Aneignung der christlich überlieferten Glaubenswahrheit« deutlich. Durch sein Erlebnis des Krieges spitzte sich seine Glaubenskrise zu, für deren Überwindung Nietzsches Lebens-Begriff zentral wurde. Seine Lektüre der ekstatischen Existenz-Bejahung Zarathustras versetzte »ihn geradezu in einen Rausch« (411). Er versuchte, die von Nietzsche zur Geltung gebrachte autonome Lebens-Immanenz mit der Möglichkeit eines Gottesbegriffs zusammenzudenken (417). Das Ganze exemplifiziert K. an Tillichs Marburger Vorlesung (1925), die mit einem Nietzsche-Zitat beginnt! Zu dieser Vorlesung lesen wir (424): »Die Krise der Dogmatik ist in Wahrheit Krise des Lebens. Dogmatik als theologisches Denken und Wahrheit beanspruchendes Reden kann nur in einer Lebens-Kraft geschehen, in der ursprüngliches Leben die Krise des faktischen Lebens überwindet.« Wie wichtig K.s Werk ist, zeigt sich z. B. daran, dass Nietzsche im TRE-Art. Tillich nicht erwähnt wird!

Das faszinierende Tillich-Kapitel verdiente Augustins »tolle, lege«! Es wäre darüber hinaus zu wünschen, dass das ganze Buch von vielen, vor allem den Theologen, gelesen würde, weil gerade der Theologe, um seine Zeit zu verstehen, ihn kennen sollte. K.s Nietzsche-Buch ist ein überaus solides und die Forschung erheblich weiterführendes Buch. Aber verhindert nicht der Umfang weithin sein Gelesen-Werden? Hätte nicht eine Straffung des Ganzen seine Lektüre erleichtert? Soll man vielleicht einem an Nietzsche Interessierten vorschlagen, erst eine leicht lesbare Nietzsche-Biographie zu lesen, um das Interesse an der Thematik von K.s Buches zu wecken? Es wäre jedenfalls zu wünschen, dass viele von K. lernten!