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Ausgabe:

September/2006

Spalte:

1025–1028

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Dalferth, Ingolf U., u. Philipp Stoellger [Hrsg.]:

Titel/Untertitel:

Wahrheit in Perspektiven. Probleme einer offenen Konstellation.

Verlag:

übingen: Mohr Siebeck 2004. VIII. 410 S. gr.8° = Religion in Philosophy and Theology, 14. Kart. Euro 59,00. ISBN 3-16-148286-7

Rezensent:

Christof Landmesser

Von Wahrheit kann grundsätzlich nur in Perspektiven geredet werden. Wovon dann die Rede sein soll, ist freilich alles andere als klar. So ist es viel versprechend, wenn 16 Autoren im Anschluss an eine Zürcher Tagungsreihe ihre Perspektiven auf die recht unterschiedlich interpretierte Wahrheitsfrage offen legen. Die Aufsätze sind in drei Abteilungen angeordnet (Wahrheit in semantischer Perspektive, Wahrheit in pragmatischer Perspektive, Wahrheit und Perspektivität), wobei sich die Fragestellungen notwendig überschneiden. Als Leitthema des Bandes formulieren die Herausgeber in ihrem einleitenden Essay (1­28) die hermeneutische Klärung des Verhältnisses von Wahrheit und Perspektive (4). Bereits hier lassen sie ihre Skepsis gegenüber den sich immer weiter ausdifferenzierenden Wahrheitsdiskursen in semantischer, ontologischer und epistemologischer Perspektive erkennen, die mit guten Gründen von praktischen, hermeneutischen, ästhetischen, religionsphilosophischen und nicht zuletzt von theologischen Hinsichten wohl nicht getrennt werden sollten, aber eben auch nicht einfach durch diese ersetzt werden können. Wenig plausibel ist die in diesem Text behauptete Vorrangigkeit des Lebens vor der Wahrheitsfrage (1), eröffnet doch gerade erst die gestellte Wahrheitsfrage den Blick auf eine dem Menschen angemessene und freie Gestaltung seines Lebens; die Wahrheitsfrage erscheint aber dann als mit dem Leben bereits mit gesetzt. Phänomenologisch dürfte sich die Wahrheitsfrage gerade als ein integraler Bestandteil des Lebens erweisen. Die von den Herausgebern angedeutete faktische Einengung der Wahrheitsfrage, die sie selbst freilich als eine Ausweitung verstehen wollen, wird so längst nicht von allen Autoren geteilt. Jan Rohls bietet einen knappen und instruktiven ersten Überblick über verschiedene bekannte Wahrheitstheorien (29­51), wobei er die jüngste Diskussion nicht mehr in den Blick nimmt.­ Dezidiert für einen korrespondenztheoretischen Ansatz optiert Armin Kreiner, der Wahrheit und Perspektivität religiöser Rede von Gott erörtert (53­67). Die grundsätzliche Kritik an der korrespondenztheoretischen Grundintention wehrt er mit Recht mit dem Hinweis ab, dass eine solche Kritik stets mit dem Anspruch der Wahrheit in eben diesem korrespondenztheoretischen Sinn formuliert werden muss, will sie nicht ins Leere laufen (54 f.). Religiöse Rede von Gott kämpft freilich mit der Schwierigkeit, dass sie keinen identischen Referenten zu Grunde legen kann, »sondern eher eine grundlegende Maxime bzw. Regel« (64). Eine solche findet K. in der Vorstellung von Gott als maximal vollkommener Person (65 f.), wobei der Glaube an diesen Gott »zu einem guten und sinnvollen Leben beitragen kann« (67). Wie problematisch eine solche Vorstellung in theologischer, christologischer und auch in anthropologischer Hinsicht freilich sein kann, dokumentiert K. mit seiner Einschätzung, dass Personen als »Kombination von Bewußtsein/Erkenntnis, Macht und Sittlichkeit« zum Wertvollsten gehören, was das Universum hervorgebracht hat, und dass so verstandene Personen »auch wertvoller als empfindungsfähige Lebewesen [sind], die zu selbstbewußtem und verantwortlichem Handeln nicht fähig sind« (65 f.).

Den Kern der Wahrheitsfrage trifft dann Lorenz B. Puntel mit seiner Abhandlung »Wahrheit« als semantisch-ontologischer Grundbegriff (69­102). Grundlegend ist seine Unterscheidung des Wortes ðWahrheitÐ von dem Begriff Wahrheit (70­74). Eine elaborierte Wahrheitstheorie bedarf der Thematisierung des Verhältnisses der Wahrheit zur Welt (74). Wahrheit erweist sich als ein Operator in einer Version des Kontextprinzips (78). Wahrheit stellt sich ein im voll determinierten Status der Sprache. Dies ist der Fall, wenn ein Satz eine voll bestimmte Proposition als einen intelligiblen und kohärenten Bestandteil der Welt ausdrückt. ­ D. Hugh Mellor erörtert die Funktion und Identifikation der Wahrmacher (103­118). ­ Horizonte der Wahrheit bei Kant rekonstruiert anschließend Josef Simon (119­140). Gerade die kritischen Überlegungen Kants verdeutlichen den notwendigen Lebensbezug des erkenntnistheoretischen Zugangs zur Wahrheitsfrage.

Grundsätzliche Skepsis gegenüber der Möglichkeit wahrheitstheoretischer Versuche, die über ein basales Wahrheitsverständnis hinausgehen, äußert Alois Rust (141­155). Die Kernidee der Wahrheit könne wohl als Korrespondenz gefasst werden, »allerdings ohne den ganzen Apparat, der daraus eine eigentliche Theorie macht« (155). ­ An die aristotelische Korrespondenzvorstellung möchte auch Eberhard Herrmann durchaus anknüpfen (157­171), allerdings dürfe Korrespondenz nicht verstanden werden »als eine Relation zwischen Behauptungssätzen und unkonzeptualisierten Tatsachen« (161). Auch sei das Bivalenzprinzip kritisch zu hinterfragen. Gegen einen Wahrheitsbegriff des metaphysischen Realismus sei ein normativer Wahrheitsbegriff in epistemischer Perspektive zu setzen, wobei sich die Wahrheitsvorstellungen in Wissenschaft und Lebensanschauung signifikant unterschieden. ­ Matthias Jung thematisiert das Verhältnis von Wahrheit und Überzeugtsein aus den Perspektiven der ersten und dritten Person (173­193).

Ingolf U. Dalferth stellt Überlegungen an zu Religion und Wahrheit (195­232). ðWahrheitÐ und ðwahrÐ bedeuten nicht immer dasselbe. In der Religion geht es »um gelebte Wahrheit, nicht bloß beanspruchte Wahrheit« (201). Ein Problem eröffnet die Alternative D.s, wenn er behauptet, dass »nicht die Wahrheit von Gesagtem und Gedachtem, sondern die Wahrheit einer Lebensweise, die sich auch in Gesagtem und Gedachtem zum Ausdruck bringt«, zur Debatte stehe (202). Die beiden zu unterscheidenden Wahrheitsvorstellungen wären nicht gegeneinander zu setzen, sondern ausdrücklich aufeinander zu beziehen. Die Vielfalt der Wahrheitsvorstellungen lässt es für D. als aporetisch erscheinen, einen einsinnig bestimmten Wahrheitsbegriff (204) oder eine einsinnig bestimmte Wahrheitstheorie (206) aufzusuchen. Eine »klare Definition von Wahrheit« braucht man nach D. ebenso wenig wie »eine akzeptierte Wahrheitstheorie, um mit dem zu tun zu haben, was diese präzisierend und damit auf bestimmte Aspekte einschränkend zu erfassen suchen« (206 f.). Der Ausdruck ðwahrÐ ist für D. ein pragmatischer, kein semantischer Operator (214). Der Gebrauch dieses Operators ist nicht in der Theorie, sondern im Leben zu verorten. Im menschlichen Leben aber kommt Wahrheit dezidiert als Freiheit in den Blick (226). Dann aber kommt Gott ins Spiel, ist doch solches wahre Leben immer auf Gott angewiesen, der das Leben allererst wahr macht (230 f.).

Enno Rudolph stellt knapp den häretischen Perspektivismus der Renaissancephilosophie dar (233­242). ­ Gabriel Motzkin diskutiert die Frage: What is God¹s Point of View (if He has one) on the World (243­252). ­ Hans-Peter Großhans kommt wieder ausdrücklich auf das Thema gebende Motiv zurück, wenn er nach Wahrheit als Perspektive? fragt (253­269). Gerade die Einsicht in die Perspektivität der Erkenntnis ­ so argumentiert G. plausibel ­ macht einen Wahrheitsanspruch erst und gerade dann sinnvoll, wenn diese perspektivische Erkenntnis überschritten werden soll, weshalb Wahrheit nicht als eine Perspektive unter anderen bezeichnet werden kann (269).

Schöne Hinweise gibt Gonsalv K. Mainberger zum Verhältnis von Wahrheit und Rhetorik (271­303), die von Jan Bauke-Ruegg im Anschluss an Nietzsche und Musil literarisch ergänzt werden (305­323). Klaus Weimar weist auf eine gewisse Wahrheitsneutralität literarischer Texte hin (325­331), »[l]iterarische Sätze sind weder einfach wahr noch einfach falsch, sondern nicht-unwahr« (331). Hier wäre jedoch ­ durchaus im Anschluss an Weimar ­ zu fragen, ob solche fiktiven Texte nicht auch etwas von der Welt zu verstehen geben wollen, wodurch sie sofort in der ihnen eigenen Weise doch wieder wahrheitsfähig wären.

Abschließend plädiert Philipp Stoellger für eine Wirksame Wahrheit (333­382). Auch er setzt mit der Feststellung der unterschiedlichen Konnotierung des Ausdrucks ðWahrheitÐ ein (335­337). Er behauptet, dass die konfligierenden Perspektiven über einen gemeinsamen, komplexen Problemzusammenhang vermittelt seien (334). Zeigen kann er dies jedoch nicht, was freilich auch nicht überrascht ob der vielfältigen, gerade nicht oder zumindest oft nicht eindeutig vermittelten Wahrheitsvorstellungen. Wahrheit darf nach St. »nicht strikt semantisch gefasst« werden (335), sie sei vielmehr festgelegt auf eine in Lebensvollzügen wirksame Wahrheit (ebd.). St. seinerseits steht dabei zumindest in der Gefahr, die klassische und unbestreitbar lebensweltlich relevante Frage nach der Wahrheit von Sätzen, Aussagen und Behauptungen in ihren semantischen und theoretischen Dimensionen zu unterschätzen. Mit St. ist freilich festzuhalten, dass Wahrheit eine pragmatische und auch eine effektive Perspektive hat. Aber um diese zu erörtern, muss eben Wahrheit gerade theoretisch bestimmt werden, denn es ist alles andere als fraglos, was denn Wahrheit sei. Die Begründung der Unmöglichkeit einer Klärung der Frage nach der Wahrheit mit Hinweis auf die pluralen Wahrheitstheorien kann nicht überzeugen (338), denn dann wäre eine solche Klärung jedweder Frage auf Grund der auch von St. mit Recht behaupteten prinzipiellen Perspektivität menschlichen Erkennens obsolet. Dass für die Wahrheitsfrage in epistemischem Horizont die Frage nach Situation, Kontext und Zeitlichkeit unbedacht bliebe (346), ist angesichts semantisch-ontologischer Entwürfe unter Einbeziehung der erkenntnistheoretischen Fragestellungen eine nicht aufrecht zu erhaltende Behauptung. Auch wenn St. nicht bestimmt, was überhaupt unter Wahrheit in epistemischer Perspektive präzise zu verstehen sein könnte, will er doch ­ und das wäre nach Klärung der für ein Wahrheitsverständnis basalen ersten Frage auch angemessen ­ die Wirkung der Wahrheit vieldimensional erörtern. Er kommt hinsichtlich der von ihm gewählten pragmatischen Perspektive zu der Bestimmung der perspektivischen Wahrheit als einer Passung in einem Horizont (362), die zugleich eine Horizontüberschreitung ist (365­370). So verstandene Wirkung der Wahrheit im Leben ist notwendig verbunden mit Freiheit. Davon ist nach St. unter christlichen Bedingungen in metaphorischer Rede Zeugnis abzulegen (379­382).

Gerade der zuletzt erwähnte Beitrag macht auf die wesentliche Kontextualtität von Wahrheit aufmerksam. Wie diese Kontextualität in den Zeitdimensionen und in ihrer Geschichtlichkeit zu verstehen ist, kann freilich nur dann geklärt werden, wenn auch die epistemische Frage nach der Wahrheit zugelassen und ausdrücklich erörtert wird. Das wird nicht in allen Beiträgen des Bandes geleistet, in manchen fällt dies gar programmatisch aus ­ aber das gehört eben auch zur wissenschaftlichen Freiheit, die ihr Fundament in der Wahrheit hat.