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Ausgabe:

September/2006

Spalte:

1023–1025

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Claussen, Johann Hinrich:

Titel/Untertitel:

Glück und Gegenglück. Philosophische und theologische Variationen über einen alltäglichen Begriff.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2005. XII, 430 S. 8°. Kart. Euro 39,00. ISBN 3-16-148679-X.

Rezensent:

Friedrich Lohmann

Claussens Hamburger Habilitationsschrift besteht in ihrem Hauptteil aus sechs jeweils etwa 50 Seiten langen Kapiteln, die Aristoteles, Augustin, Meister Eckhart, Luther, Spalding und Kant gewidmet sind. Den Rahmen bilden eine Einleitung, die neuere philosophische und theologische Arbeiten zur Glücksthematik kritisch referiert, ein Durchgang durch die relevanten Passagen der Bibel als »biblisches Vorspiel« sowie »Schlußgedanken« C.s.

Ausgangspunkt ist die Wahrnehmung einer grundlegenden Strittigkeit im Blick auf das, was menschliches Glück ausmacht. Strittig ist nicht nur, worin Glück im eigentlichen Sinne besteht, sondern auch, ob das Streben nach Glück überhaupt gut zu heißen ist ­ eine Frage, die C. eindeutig bejaht. Dies macht nicht zuletzt die Aufnahme des von Gottfried Benn geprägten Begriffs »Gegenglück« in den Titel des Werks geltend: »So wie bei Benn finden sich bei allen Glücksgegnern und -verächtern verborgene, kaschierte oder transformierte Glücksmotive« (36). Auch im Hintergrund der Kritik am Eudämonismus steht eine ­ nur eben andere ­ Konzeption des Glücks. Die historischen Referate sind dementsprechend in Zweiergruppen gegliedert, bei denen jeweils eine dezidiert eudämonistische einer glückskritischeren Konzeption gegenübersteht, die an die Vorgängertheorie anknüpft, sie jedoch zugleich »durchbricht und durchkreuzt« (34 f.). C.s Ziel dabei ist es, »die relative Enge zeitgenössischer Debatten zu verlassen« (34) und anhand klassisch gewordener Positionen »der unhintergehbaren Strittigkeit des Glücks auf den Grund zu gehen« (33). Und die Ausgangshypothese besteht darin, dass die »Widersprüchlichkeit des Glücks« (101) »in grundsätzlichen existentiellen Antagonismen, also in der menschlichen ðNaturÐ selbst« (34) begründet ist.

Die Einleitung (2­37) führt Strittigkeit und »relative Enge« anhand von zeitgenössischen Glückskonzeptionen vor. C.s später formulierte eigene Position deutet sich bereits an, wenn Marcuse und Lehnerer auf Grund ihres individualistischen Ausgangspunkts das relativ meiste Lob erhalten, während Spaemann eine »anti-intuitive Moralisierung des Glücks« (23) vorgeworfen wird. Bedauerlich ist, dass C. den einschlägigen Beitrag Jörg Lausters und die Anfragen, die Theodor Dieter an Lauster gerichtet hat, nicht mehr berücksichtigen konnte. Das Biblische Vorspiel (38­64) widmet sich zunächst dem am »Tun-Ergehen-Zusammenhang« orientierten Bild menschlichen Glücks, das die alttestamentliche Weisheitsdichtung voraussetzt und das dann in dieser selbst (Kohelet, Hiob) fraglich geworden ist. Im Neuen Testament sind es »eschatologische Paradoxien, nach denen die Unglücklichen die wahrhaft Glückseligen sind« (62), die das Bild vom Glück (bzw. der Freude) beherrschen.

Das Kapitel zu Aristoteles (65­103) arbeitet sich zielstrebig von der handlungstheoretischen Grundlegung, die das Glück als »Selbstwerdung« (81.98) ansieht, bis zur kontemplativen Schau Gottes als höchster Form des Glücks hindurch. Diese »religionsphilosophische Zielrichtung« (97) des Stagiriten erleichtert den Übergang zu Augustin (104­161). Ein kritischer Exkurs zur Stoa, vertreten durch Cicero (104­117), lässt die Stärken der augustinischen Konzeption, namentlich in den »Confessiones«, umso stärker hervortreten. Auch Augustin sieht in antiken Bahnen das höchste Glück in der Kontemplation. Neu ist zum einen ein »dialektischer Eudämonismus« (151): Das wahre Glück besteht allein in der Schau Gottes, die als Gegenglück gegen alle irdischen Versuche der Selbstbeglückung gedacht ist. Zum anderen ­ und dies wird von C. besonders hervorgehoben ­ findet Augustin das Glück nicht in der Verwirklichung »eines allgemeinen, weil rein rationalen Selbst« (161), sondern umgekehrt in der Tiefe des eigenen Herzens, so dass gilt: »die Entdeckung und Erschließung des eigenen Lebens als von Gott gewollt und geleitet ist hier das ðwahreÐ Glück« (ebd.). Meister Eckhart (162­204) verstärkt diesen augustinischen Zug ins Innerliche (z. B. 196); die Erfahrung der Einheit mit Gott geschieht bei ihm allerdings »um den Preis von Entkreatürlichung und Dehumanisierung, verbunden mit dem Verlust von Individualität und sozialem Leben« (204). Luther (205­274) »ist auf den ersten Blick das genaue Gegenteil eines Glückstheologen« (385). In der Tat hat Luther wie kein Zweiter die Unvollkommenheit jeder Art menschlichen Glücksstrebens entlarvt. Auch Luther kennt jedoch ein Gegenglück: die Freude des Rechtfertigungsglaubens. Bei Spalding (275­325) und den Neologen im Allgemeinen tritt der »Glücksbegriff explizit in das Zentrum ihres Nachdenkens« (275), und zwar nicht zuletzt in Reaktion auf »die theologisch gewollte Stiftung eines unglücklichen Bewusstseins« (316) im Hallenser Pietismus. Selbstbeobachtung ist auch für Spalding der Ansatzpunkt der Reflexion (285), aber sie führt ihn anders als die Pietisten zu einer positiven, glückseligen Deutung des eigenen Lebens unter der Perspektive des Schöpfungs- und Vorsehungsglaubens. Bei Kant hingegen (326­379) tritt die Glückskritik wieder stärker in den Blickpunkt. C.s Kant-Interpretation ist darauf gerichtet, die Kritik am Eudämonismus als Bemühen um eine »glücksindifferente Ethik« (346) zu erweisen. Gerade so entsteht Raum für eine »legitime Individualität und Pluralität des Glücks« (365) und insbesondere für seine »religionsphilosophische Rehabilitierung« (ebd.): »Kant hat den Glücksbegriff zum eigentlichen Thema der Religion erklärt« (372). Die Schlussgedanken (380­400) sind zweigeteilt: Einer Zusammenfassung der historischen Interpretationen folgen eigene Überlegungen C.s im Sinne einer abschließenden Meditation über das Glück.

C.s Buch hat viele Vorzüge. Die Sprache ist wohltuend einfach gehalten und ­ durchaus mit Erfolg ­ um stilistische Eleganz bemüht. Argumentation und Gliederung sind klar und präzise. Dem Anliegen, »Momente eines dialektisch gebrochenen und deshalb komplexeren, reicheren Glücksbegriffs [zu] gewinnen« (380) und diesen anthropologisch zu verankern, stimme ich rundweg zu. Gerade hier erhebt sich freilich eine Anfrage: Ist die Vorstellung vom Glück, die C. herausarbeitet, komplex genug? Die Wertungen, die C. in den historischen Referaten erteilt, wirken einseitig: Aristoteles und Meister Eckhart werden bei aller Zustimmung dafür gerügt, zu sehr im Allgemeinen haften zu bleiben; Augustin und Spalding werden besonders dort gelobt, wo sie einen individuell-autobiographischen Zugang zum Glück beschreiben. Problematisch wird diese die Ausführungen leitende Individualisierung des Glücks vor allem bei der Interpretation Luthers und Kants. C.s Kritik an einer ­ ebenso einseitigen! ­ Sicht der beiden als Anti-Eudämonisten ist durchaus berechtigt. Beide kennen eine Vision vom Gegenglück. Aber müsste nicht der Aspekt des Gegenglücks sehr viel stärker herausgearbeitet werden, wenn Luther letztlich eine »konsequente Deregulierung der Lebensführung« (386) attestiert wird, bei der »man seine Individualität zur Geltung kommen läßt, sich selbst verwirklicht« (ebd.), und Kants Denken fast gleichlautend auf eine »Deregulierung des Glücksstrebens« (388) hinauslaufen soll? Die »andere Art der Selbstverwirklichung« (385), die beiden vorschwebt, ist doch ohne die dienstbare Bereitschaft den Nächsten gegenüber bzw. den Blick auf die anderen Glieder im Reich der Zwecke nicht zu haben. Ein solcher selbstvergessener Blick gehört schon zum Sein des Glaubens, noch vor allem Tun der Werke. Dass C. auf diesem Auge keineswegs blind ist, zeigt die Schlussmeditation. Zu den glänzenden Formulierungen, die sie enthält, gehören diejenigen, die aussprechen, wo das in Gott genossene Glück im Sinne von tugendartigen Grundeinstellungen »ethisch relevant« wird (398 f.). Auch in der Einleitung stimmt C. der »These, daß Glück nur innerhalb von Moralität möglich sei« (22), durchaus zu. Ist von Moralität die Rede, dann sitzt aber auch eine allgemeine und ­ horribile dictu ­ regulierende Bestimmung des Menschen mit im Boot. Auf dieser Basis wird das Insistieren auf dem dezidiert Individuellen des Glücks und der Religion unverständlich. Zu den »Polaritäten Š, die das Glück bestimmen« (37), gehört eben auch die von individueller und allgemeiner Seite der Menschennatur. »Aber das Glück eines anderen kann nie das eigene sein« (21). Warum eigentlich nicht?

Der zuletzt zitierte Satz entstammt C.s Kritik an der »einsinnigen Š Moralisierung des Glücks« (23) bei Robert Spaemann (vgl. auch die Kritik an der »hergebrachten sollensethischen Konzentration«, 33). C. vertritt eine entschiedene Antithese zu dieser Position. Die erforderliche Synthese hingegen deutet sich bei ihm erst an. Darin liegt die eigentliche Provokation zur Weiterarbeit am Glücksbegriff, die von C.s Buch ausgeht. Wer in Zukunft über das Glück schreibt, wird an ihm ­ in Anknüpfung und Widerspruch ­ nicht vorbeikommen.