Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2006

Spalte:

1005–1008

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Rothschild, Clare K.:

Titel/Untertitel:

Luke-Acts and the Rhetoric of History. An Investigation of Early Christian Historiography.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2004. XVI, 371 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 175. Kart. Euro 64,00. ISBN 3-16-148203-4.

Rezensent:

Jens Schröter

Die Untersuchung geht auf die Dissertation der Autorin zurück, die unter Hans Dieter Betz verfasst und 2003 an der University of Chicago eingereicht wurde. Sie befasst sich mit der Bedeutung der Rhetorik für die antike Geschichtsschreibung mit besonderem Augenmerk auf das lukanische Doppelwerk.

Antike Geschichtsschreibung, so die zentrale These der Arbeit, basiere zu einem wesentlichen Teil auf der Beglaubigung der erzählten Ereignisse durch die Form der Darstellung. Behauptungen von Historikern wie Herodot, Thukydides oder Polybius, sie würden auf Rhetorik und stilistische Raffinessen zu Gunsten der ungeschmückten Wahrheit verzichten, dürften nicht für bare Münze genommen werden, sondern seien selbst Teil der Strategie, die Wahrheit des eigenen Berichts zu verbürgen. R. knüpft hier an neuere Forschungen an, die gezeigt haben, dass auch Historiker wie Thukydides nicht als »objektive« oder »wissenschaftliche« Geschichtsschreiber im modernen Sinn zu verstehen sind, sondern ihre Darstellungen in vielfältiger Weise mit mythischen Elementen durchsetzt haben. Theologische und mythische Elemente bilden demnach ein zentrales Element antiker Geschichtsdarstellungen, was nicht zuletzt durch die Herkunft der Geschichtsschreibung aus der Mythendichtung belegt wird. Die Schilderung göttlicher Eingriffe in den Lauf der Ereignisse sei deshalb eine in antiken Geschichtswerken durchgehend anzutreffende narrative Strategie, die Unterscheidung von Fakten und Fiktionen demzufolge ein wenig taugliches Instrument zu ihrer Beurteilung. Dies treffe für die israelitisch-jüdische Historiographie in analoger Weise zu wie für die griechisch-römische.

Vor diesem Hintergrund stellt R. die in der Forschungsgeschichte zum lukanischen Doppelwerk entstandene Alternative »historische oder theologische Darstellung« als unzureichend heraus. Sie verfolgt deren Entstehung im frühen 19. Jh., ihre Zuspitzungen durch die Positionen von Franz Overbeck und Adolf Harnack, später dann durch Martin Dibelius und Henry Joel Cadbury sowie durch Hans Conzelmann, Ernst Haenchen und die Beiträge in der Festschrift für Paul Schubert von 1966, schließlich ihre Adaptionen in neueren Beiträgen, etwa in Gregory Sterlings Untersuchung zur apologetischen Geschichtsschreibung oder in Hubert Canciks Vorschlag, die Apostelgeschichte als »institutional history« zu klassifizieren. Als grundlegendes Defizit dieser Forschungen diagnostiziert R. die Aufteilung in eine theologische und eine historische Perspektive, bei der in der Regel eine der beiden als die maßgebliche behauptet werde. Ihre eigene Lösung lautet, die Beachtung der rhetorischen Dimension der Geschichtsschreibung könne diese Diastase in der Beurteilung des lukanischen Werkes überwinden.

Die Darstellung der Forschung mutet etwas einseitig an. So ist etwa die Einschätzung der Sicht von Dibelius, der Lukas als einen Prediger beurteilt habe, der sich der Geschichte nur pro forma bediene, nicht ganz zutreffend. Für Dibelius besitzt die Apostelgeschichte durchaus historischen Wert, allerdings wurde Lukas ihm zufolge erst dadurch zum »ersten christlichen Historiker«, dass er den berichteten Ereignissen durch seine Darstellung einen »Richtungssinn« verlieh, nämlich die Ausbreitung der christlichen Heilsbotschaft hin zu den Heiden. Welcher Mittel er sich dazu bediente, wird von R. detailliert untersucht, ihr Anliegen lässt sich aber durchaus mit demjenigen anderer Forscher in Einklang bringen. Auch Dibelius hatte beispielsweise die Lenkung der Ereignisse durch das Eingreifen Gottes als ein Darstellungsmittel des Lukas herausgestellt. Wenn R. moniert, die bisherige Forschung hätte die rhetorische Dimension bei der Beurteilung der lukanischen Geschichtsdarstellung unterschätzt, wäre an ihre eigene Untersuchung die Frage zu richten, ob die ausschließliche Konzentration auf die Form der Darstellung nicht die Gefahr einer Verkürzung der Interpretation in sich birgt, denn die Form lässt sich von dem Inhalt des Berichteten nicht trennen.

Bevor sie sich dem lukanischen Doppelwerk genauer zuwendet, untersucht R. zunächst »Methods of Authentication in Hellenistic and Early Roman Historiography«. Die Prologe zu Geschichtswerken ließen mit der Versicherung, das Dargestellte sei wahr, sorgfältig erforscht, präzise dargestellt und durch Augenzeugen beglaubigt, die Notwendigkeit erkennen, die Glaubwürdigkeit des Berichteten zu verteidigen. Die Art der Darstellung war deshalb von großer Bedeutung, wiewohl es ­ insbesondere bei Lukian ­ auch Skepsis gegenüber Ausschmückungen und Übertreibungen durch Geschichtsschreiber gab. Ein wichtiges rhetorisches Mittel war auch die Imitation, durch die sich ein Autor in die Tradition seiner Vorgänger stellte. Im lukanischen Doppelwerk identifiziert R. vier Merkmale historiographischer Rhetorik, die in den folgenden Kapiteln genauer untersucht werden: »historical recurrence«, »prediction«, »divine guidance«, angezeigt insbesondere durch den Gebrauch von dei, sowie die Erweiterung der Augenzeugen und die summarische Verkürzung von Berichten (»epitomization«).

»Historical Recurrence as Rhetoric« lasse sich im lukanischen Doppelwerk häufig feststellen. R. bietet zunächst eine tabellarische Gegenüberstellung analoger Themen im LkEv, in Apg 1­12 sowie 13­28 (etwa: die Konstatierung der Erfüllung prophetischer Verheißungen; Heilungen durch Jesus, Petrus und Paulus; Einladungen durch heidnische Hauptmänner in Lk 7 und Apg 10 bzw. den Kerkermeister in Apg 16; die Ergreifung von Jesus in Lk 22,54, Petrus in Apg 12,4 und Paulus in Apg 21,30 u. a. m.). Lukas bediene sich dabei der rhetorischen Mittel der Synkrisis, der Eikôn, verbaler Echos sowie der historischen Charakterisierung. Durch diese werde ein enges Netz zwischen den Episoden beider Teile seines Werkes geknüpft, die Geschichte der frühen Jesusbewegung auf diese Weise als »dynamic complex of interrelated series of reenactments« dargestellt.

Ein weiteres Kapitel befasst sich mit »Prediction in Historiography«. Seit Homers Odyssee spielt die Weissagung kommender Ereignisse in der antiken Geschichtsschreibung eine wichtige Rolle. Dies lasse sich etwa bei Herodot und Thukydides zeigen und begegne in der hellenistischen Geschichtsschreibung z. B. bei Dionysius von Halicarnassus und Josephus. Auch Lukas mache hiervon Gebrauch, insbesondere in den Zitaten aus der Septuaginta, die als durch die Ereignisse um Jesus in Erfüllung gegangene Weissagungen aufgefasst werden. Dabei liege der Akzent auf den erfüllten Ereignissen ­ anders als bei Matthäus, der die Erfüllung der Schrift betone. Darüber hinaus gebe es bei Lukas Weissagungen durch Boten Gottes (so etwa die Geburten Johannes des Täufers und Jesu), durch den auferstandenen bzw. erhöhten Christus (so z. B. der Empfang des Geistes durch die Jünger oder das Leiden des Paulus) sowie durch den heiligen Geist (so z. B. in den Episoden von Philippus und dem Kämmerer sowie Petrus und Kornelius). Eine weitere Kategorie seien Weissagungen durch Menschen: jüdische Propheten (z. B. Agabus), Jesus und weitere Personen, z. B. christliche Propheten. Lukas greife mit dem Weissagungs-Erfüllungs-Schema ein Instrument griechisch-römischer Geschichtsschreibung auf, stelle sich aber zugleich durch den Bezug auf die Schriften Israels und die Eingriffe in die Geschichte durch Boten des Gottes Israels inhaltlich in die Tradition biblischer Historiographie.

Zur lukanischen Geschichtsschreibung gehöre weiter die insbesondere durch den Gebrauch des dei angezeigte Herausstellung der göttlichen Lenkung der Geschichte. Lukas beglaubige auf diese Weise seine Darstellung der berichteten Ereignisse, indem er aufzeige, dass sich diese so und nicht anders ereignen mussten. Es handle sich also nicht um einen auf die göttliche Notwendigkeit von Leiden und Tod Jesu ausgerichteten Gebrauch, sondern um ein rhetorisches Mittel, das sich semantisch in die gängige hellenistische Verwendung einordne.

Schließlich werden die Beglaubigung des Erzählten durch Augenzeugen und die summarische Darstellung von Ereignissen beleuchtet. Beides bilde gemeinsam die »übertreibende Sprache« des lukanischen Werkes. Betonung von Augenzeugenschaft ­ sowohl des Autors selbst wie auch weiterer Zeugen ­ war in der antiken Geschichtsschreibung ein verbreitetes Mittel, die Zuverlässigkeit des Berichteten zu sichern. Lukas greife hierauf häufig zurück, angefangen vom Prolog des Evangeliums, der sich auf »viele« Vorgänger bezieht, über die Erwähnung des »ganzen Volkes«, das von Johannes getauft wurde (Lk 3,21), und die großen Menschenmengen während des Wirkens Jesu bis hin zu den vielen Augenzeugen in der Apostelgeschichte, etwa der großen Zahl der zur Jerusalemer Gemeinde Bekehrten oder den »vielen Juden und Gottesfürchtigen«, die Paulus und Barnabas im pisidischen Antiochia folgen. In diesen Zusammenhang ordnet R. auch die »Wir-Passagen« ein: Es handle sich um ein Mittel, mit dem Lukas dem Leser an entscheidenden Punkten der Erzählung den Eindruck unmittelbarer Verbindung mit den Ereignissen vermittle.

Freilich haben nicht alle diese »Augenzeugen« die Funktion, das Erzählte zu beglaubigen. Häufig wird auf diese Weise vielmehr die große Wirkung der urchristlichen Mission, also die Bedeutung der Ereignisse, herausgestellt. Ob sich zudem das Rätsel der »Wir-Passagen« dadurch lösen lässt, dass es zu einem rein rhetorischen Mittel erklärt wird ­ dieser Vorschlag ist ja nicht neu ­, erscheint zumindest fraglich. Hier zeigt sich wiederum, dass die ausschließliche Konzentration auf die Rhetorik der Interpretation Grenzen setzt. Historische und (geschichts-)theologische Gesichtspunkte, die ja für die Beurteilung der Darstellungsweise des Lukas zweifellos von Bedeutung sind, treten dabei kaum in den Blick.

Mit epitomizing bezeichnet R. summarische Bemerkungen, etwa über die Machttaten Jesu (Lk 7,22 f.), über »alle Dinge«, die in Gesetz, Propheten und Psalmen über Jesus geschrieben sind und nunmehr in Erfüllung gehen mussten (Lk 24,44), oder über die Tätigkeit des Philippus in Samaria (Apg 8,6­8). Auf diese Weise erwecke Lukas den Eindruck, umfangreichere Ereignisse in geraffter Form darzustellen (wobei häufig offen bleibe, ob er tatsächlich mehr zu berichten gehabt hätte), was sowohl zur Klarheit der Darstellung als auch zu deren Glaubwürdigkeit beitrage.

R.s Arbeit ist eine beachtliche Untersuchung zum lukanischen Doppelwerk. Nicht alle Beobachtungen überzeugen allerdings in gleicher Weise. Häufig werden Texte aus LkEv und Apg nur aneinander gereiht, griechisch und englisch zitiert und kurz im Blick auf das Thema des jeweiligen Kapitels kommentiert. Eingehende Analysen, die Fragen klären könnten, die sich bei etlichen Interpretationen ergeben, fehlen dagegen. Bisweilen wirken die Deutungen etwas forciert im Blick auf das gewünschte Ergebnis.

Dessen ungeachtet ist die Untersuchung ein wichtiger, auf hohem Niveau verfasster Beitrag zur Einordnung des lukanischen Werkes in die antike Geschichtsschreibung. Dass Lukas als antiker Historiker diverse Mittel einsetzte, um seine Erzählung als glaubwürdigen Bericht über die Frühzeit des Christentums zu erweisen, wird überzeugend herausgearbeitet. Nicht zuletzt wird die längere Zeit gängige Aufteilung der antiken Geschichtsschreibung in eine »pragmatische«, eine »mimetische« und eine »rhetorische« Richtung, die in neueren Untersuchungen zumeist wieder aufgegeben wurde, auch durch die vorliegende Darstellung in Frage gestellt. Die Gemeinsamkeiten antiker Geschichtswerke sind wesentlich größer, als es eine solche Aufteilung insinuiert. Ob es eine »pragmatische Geschichtsschreibung« in der Antike jemals gegeben hat, ist zudem mit einem deutlichen Fragezeichen zu versehen.

R. zufolge ist das lukanische Werk keine theologische Abhandlung, sondern das Werk eines »master of style, rhetoric and technique«. Es bleibt freilich die Frage, ob Lukas seine Leser nicht gerade deshalb für seine Sicht der erzählten Ereignisse gewinnen wollte, weil er von deren Wahrheit überzeugt war. Dann würde es sich nicht nur um eine rhetorisch und stilistisch versierte Darstellung, sondern auch um eine bemerkenswerte geschichtstheologische Deutung des Berichteten handeln.