Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2006

Spalte:

1000–1002

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

B>Kannaday, Wayne C.:

Titel/Untertitel:

Apologetic Discourse and the Scribal Tradition. Evidence of the Influence of Apologetic Interests on the Text of the Canonical Gospels.

Verlag:

Atlanta: Society of Biblical Literature 2004. XIV, 274 S. gr.8° = Text-Critical Studies, 5. Kart. US$ 39,95. ISBN 1-58983-101-2.

Rezensent:

Ulrich Schmid

Das anzuzeigende Werk geht auf die von Bart Ehrmann betreute Dissertation des Vf.s zurück. In sechs Kapiteln wird die These entfaltet, »that scribes engaged in the work of transmitting the canonical Gospels did, indeed, in some cases, modify their exemplars under the influence of apologetic interests« (57). Das erste Kapitel bietet zum einen geraffte Überblicke über die textkritische Forschung zum Thema intentionale Variantenbildung (»Scribal Intentionality«) und zur modernen Erforschung der altkirchlichen Apologeten. Zum anderen werden die Protagonisten der Auseinandersetzungen zwischen Heiden (von Plinius Secundus bis Porphyrius) und Christen (von Quadratus bis Origenes) kurz vorgestellt. Die Kapitel II bis V beschäftigen sich mit vier Schwerpunkten der heidnischen Kritik, nämlich der intellektuellen Integrität der Christen (Kapitel II), den Taten und der Person Jesu (Kapitel III), der gesellschaftlichen und moralischen Integrität seiner Anhänger (Kapitel IV) sowie den politischen Friktionen zwischen römischem Staat und christlicher Kirche (Kapitel V). Die Vorgehensweise im Einzelnen ist weitgehend parallel: Nach einer einleitenden systematisierenden Darstellung von heidnischen Vorwürfen zu einem der genannten Schwerpunkte, respektive weiterer Unterpunkte, werden variierte Stellen aus der Textüberlieferung der neutestamentlichen Evangelien vorgestellt und besprochen. Dabei werden zunächst die jeweiligen Alternativlesarten hinsichtlich ihrer externen Bezeugung (Alter und Bedeutung der Überlieferungsträger), ihres überlieferungstechnischen Status (mögliche mechanische Ursachen ihrer Genese) und ihrer internen Plausibilität (Anstößigkeit, Kontexteinbindung, Sprachgebrauch des Autors etc.) untersucht. Nachdem so die wahrscheinlich ursprüngliche und die dazu sekundäre(n) Lesart(en) festgestellt sind, interpretiert der Vf. Letztere als apologetische Reaktionen christlicher Schreiber auf die vorher beschriebenen heidnischen Vorwürfe. In einem sechsten Kapitel werden die Implikationen der vorgelegten Arbeit hinsichtlich der Beurteilung einzelner Varianten sowie weitergehende methodische und historische Reflexionen dargelegt. Ein Literaturverzeichnis, ein sechsseitiger »General Index« sowie ein zweiseitiger »Index of Textual Variants« schließen das Buch ab. Die Register sind so abgedruckt, wie sie der Texteditor ausgegeben hat. Das hat zur Folge, dass Registereinträge z. B. zu Baarda, Diatessaron und Jesus auch auf das Literaturverzeichnis verweisen und die Bibelstellen sachlich falsch geordnet sind (z. B. Lk 2,39 kommt nach 19,38 und vor 2,7).

Der Vf. verdient uneingeschränktes Lob für das über weite Strecken erkennbare Bemühen, die Alternativlesarten nicht vorschnell durch Rekurs auf apologetische Motive zu werten. Stattdessen diskutiert er sie nach allen Regeln der Kunst. In vielen Fällen bietet die dabei aufgebotene Kunstfertigkeit kaum Anlass zur Kritik ­ wenngleich die Gewichtung der Argumente und die resultierenden Schlussfolgerungen hier und da auch anders ausfallen könnten. Gelegentlich zeigen sich aber handwerkliche Probleme beim Umgang mit dem Variantenmaterial und den Überlieferungsträgern.

Beispiele: 1. Auf Mt 9,34 gemünzt heißt es: »Some few manuscripts (only Daksys and Hilary of Poitiers Š) bear witness to this verse Š« (127). Es ist genau umgekehrt: Nur die genannten Zeugen lassen den Vers aus. 2. Der Umgang mit dem Zeugen Marcion ist nicht akzeptabel. Einerseits wird das Argument B. Ehrmanns, das Zeugnis Marcions zu einer Lesart in Lk 8,3 erlaube deren Datierung »as early as the mid-second century«, zustimmend vermerkt (182). Andererseits wird Marcion als Zeuge für eine Lesart zu Lk 23,45 zwar genannt (97). Dann jedoch behauptet der Vf. im selben Zusammenhang zu eben jenem Vers, P75 »serves as the only witness on either side of the textual question that can with certainty be dated prior to Origen¹s Contra Celsum« (98). 3. Der Umgang mit dem Zeugen (Tatians) Diatessaron ist auch unbefriedigend. Zu Mt 27,9 findet sich die Verzeichnung »Diatessarona,l« (74), ohne dass erklärt würde, wofür diese Kürzel stehen. Zu Mt 1,22 (72) und 21,44 (135­137) wird einfach nur »Diatessaron« zu jeweils einer diskutierten Lesart vermeldet. Hier gibt es keinen Hinweis auf eine oder mehrere Quellen, ganz so, als ob das Diatessaron an diesen Stellen einfach vorhanden wäre. Allein der Umstand, dass in GNT4 zu Mt 21,44 die Apparatnotiz »DiatessaronV« [= Venetianisches Diatessaron] aus GNT3 ersatzlos gestrichen wurde, sollte auch den Nichtspezialisten auf diesem Gebiet zur Vorsicht mahnen. 4. Der Vf. versucht eine Zusammenschau der »Syriac versional tradition« (73). Dabei nennt er »(1) Tatian¹s Diatessaron Š, (2) Two Old Syriac manuscripts Š, (3) The Peshitta Š, the Philoxenian Š and/or Harclean Š versions; and (5) the Palestinian Syriac Š« (73, Anm. 59), deren »literary relationship« zwar noch viele ungelöste Fragen aufweise, deren »undisputed geographical relationship« (73, Hervorh. vom Vf.) jedoch Argumente ermögliche. Unklar ist hier, was »geographical relationship« meint, angesichts der Tatsache, dass die einzige syrische Version, deren genaue geographische Herkunft bekannt ist (= Harklensis), in der Nähe von Alexandria entstanden ist.

Was ist zur Hauptthese »that scribes Š did, indeed, in some cases, modify their exemplars under the influence of apologetic interests« (57) zu sagen? In dieser Form kann sie schwerlich bestritten werden. Unbehagen empfindet der Rezensent jedoch bei der häufig gebrauchten Terminologie »the scribes«, wenn es darum geht, die Zeugen für die eine oder andere Lesart zu charakterisieren.

Wie können »scribes« identifiziert werden, die dieses Textstück eingefügt und nicht einfach nur abgeschrieben haben, weil sie es in ihrer Vorlage fanden? Zu Mk 1,2 wird die Lesart ohne »Jesaja« (= Mehrheitstext) u. a. mit der rhetorischen Frage kommentiert »Why, though, did these scribes not follow the lead of Matthew and Luke in how they handled the text?« (67) und ließen ­ anstatt »Jesaja« wegzulassen ­ das zu Jesaja unpassende Zitat von Mal 3,1 aus? Die Antwort ist so evident wie simpel: Im Normalfall machen »scribes« schlicht ihre Arbeit und schreiben ihre Vorlage ab ­ und in ihrer Vorlage fehlte eben »Jesaja« und nicht das als eventuell unpassend empfundene Zitat von Mal 3,1.

Es entsteht so der Eindruck, als ob hinter jedem einzelnen Textzeugnis die individuelle Entscheidung des jeweiligen Schreibers steht, diese und nicht jene Lesart gewählt zu haben. Eine derartige Matrix für die Interpretation von Textvarianten stellt aber eine fundamentale Neubewertung der Funktion von Abschreibern dar: »Scribes« wären weniger Kopisten als vielmehr Editoren oder gar Autoren. Für letztere Interpretation spräche die Wahl der Umschlagillustration, die ein Autorenportrait aus der Renaissancezeit zeigt, das nach dem Typus des Hl. Hieronymus ­ umgeben von Büchern ­ in der Studierstube gestaltet ist. Sollen wir uns etwa nach dieser Analogie die normalen Abschreiber neutestamentlicher oder anderer antiker Texte in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung vorstellen? Beim gegenwärtigen Kenntnisstand zu den materialen Aspekten antiker Textreproduktion kann dies nur als anachronistisch bezeichnet werden.