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Ausgabe:

September/2006

Spalte:

990–992

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Kunin, Seth D.:

Titel/Untertitel:

We Think What We Eat. Neo-structuralist analysis of Israelite food rules and other cultural and textual practices.

Verlag:

London-New York: T & T Clark International (Continuum) 2004. VII, 256 S. gr.8° = Journal for the Study of the Old Testament. Supplement Series, 412. Lw. £ 70,00. ISBN 0-567-08177-X.

Rezensent:

Henning Graf Reventlow

Der Haupttitel greift nur ein, wenn auch wichtiges Kapitel aus dem vielseitigen Band heraus: die israelitischen Speisevorschriften. Aufschlussreicher ist der Untertitel, denn die Eigenart des Buches besteht vor allem in der benutzten Methodik: Kunin wendet eine strikte strukturalistische Analyse im Gefolge von C. Lévi-Strauss und E. Leach (vgl. 104.168) auf biblische Texte an.

Wie in einer einführenden methodischen Besinnung (Kapitel 1; 5­28) erläutert wird, rechnet der klassische Strukturalismus mit einer dreigeschichteten zu Grunde liegenden Struktur des Denkens, die in einer untersten Schicht (S1) allen Menschen gemeinsam ist. Die zweitoberste Schicht (S2) ist für eine kulturelle Gruppe spezifisch ­ K. wendet sie vor allem auf das biblische Israel an. Nur S3 ist noch spezifischer (Skizze 1; 8). Davon abgehoben gibt es auch noch eine narrative Ebene, die aber auf Strukturen keinen Einfluss hat.

Grundlegend für die Strukturen ist der dyadische Aufbau: Die Gruppen A und B sind unüberbrückbar voneinander getrennt (Skizze 2; 12). Ihr Verhältnis zueinander kann positiv, negativ oder neutral sein. Ebene S3 ist kontextspezifisch: Bemerkenswert ist, dass K. für narrative Texte, vor allem in Gen, eine zu Grunde liegende Struktur aus »Mythemen« annimmt: mythischen Themen, die als regelmäßige Motive den Aufbau bestimmen. Daneben gibt es Rituale mit Rithemen. Wichtig ist für K., dass es im Bereich der Mythen und Rituale auch (negativ oder positiv) vermittelnde Elemente gibt (15 f.), die nicht nur als anomal gewertet werden sollten. Persönlichem strukturveränderndem Handeln gibt K. durchaus Raum (23 f.), betont aber auch die Durchlässigkeit von Strukturen im sozialen Raum.

K. beginnt mit einer Analyse der israelitischen Speisegesetze (Kapitel 2; 29­103). Nach einem ausführlichen Überblick über die Forschungsgeschichte (29­83), in dem besonders die Grande Dame der strukturellen Soziologie Mary Douglas für ihre Verdienste gewürdigt, aber auch kritisiert wird (vgl. 96. 239), besonders ihr Ausgehen von Gen 1 und das Konzept der Anomalie, während K. Ambiguität hervorhebt ­ allen Ansätzen gemeinsam wird entweder Vermischung kultureller Kategorien oder Überbetonung eines Aspektes vorgeworfen (83) ­, kommt K. zu seinem eigenen Modell einer »clear and consistent structural equation« (ebd.). Ausgehend von den israelitischen Speisevorschriften werden auch die Kategorien von rein und unrein, das Opfer und die Kategorisierung von Völkern behandelt. Da narrative und diachrone Aspekte in strukturalistischer Sicht sekundär sind, geht es um die Abstraktion von Modellen. Untersucht werden Dtn 14, 3­18 und Lev 11. Die Grundstruktur der Speisevorschriften ist danach dyadisch: Erlaubte und verbotene Speisen stehen sich ohne Überbrückungsmöglichkeit gegenüber. Bei Landtieren sind es Kategorien wie Wiederkäuer und gespaltene Hufe, die Essbarkeit signalisieren. Unerlaubt sind auch Tiere, die nur ein Merkmal aufweisen, besonders das Schwein (89). Vermittlungsbefunde werden negativ gewertet. Auch die Liste opferbarer Tiere folgt dem gleichen Modell. ­ Ob dessen strukturalistische Deutung zutrifft, muss allerdings offen bleiben. Die Bewertungsmaßstäbe wirken zu artifiziell, nachträglich aufgesetzt, als dass das Ursprungsproblem derartiger Unterscheidungen schon gelöst erscheinen könnte.

In Kapitel 3 »The Death of Isaac« (104­146) behandelt K. Gen 22, ausgeweitet auf einen Vergleich mit Gen 37 und die Wirkungsgeschichte von Gen 22 in der midraschischen rabbinischen Literatur, im Neuen Testament und in dem Buch Mormon. Die Exegese von Gen 22 enthält einige wichtige, durch den strukturalistischen Ansatz bedingte Entscheidungen, die aus anderer Sicht in Frage gestellt werden müssen.

Da ist erstens die Aussage, das Eingangsmythem sei auf horizontaler Ebene die Opposition zwischen Isaak und Ismael (108 u. passim). Zugegeben wird: Ismael kommt im Text gar nicht vor. Man kann den (von der strukturellen Oppositionsthese her notwendig werdenden) Gegensatz zwischen beiden höchstens aus dem Gesamtzusammenhang der Patriarchengenealogie erschließen. Die rabbinische Exegese hat ihn allerdings ebenfalls konstruiert (124­133). Auf der vertikalen Ebene ist es das Verhältnis zwischen Abraham, dessen Vaterrolle auf den Kopf gestellt wird, indem er seinen Sohn tötet, und Isaak. Er wird sogar aus der Vaterrolle entlassen, »opening the possibility that Isaac was of divine origin rather than human origin« (110). ­ Das ist freilich nicht Strukturalismus, sondern Mythentheorie. ­ Eingeführt wird damit ein weiteres, für die weitere Diskussion wichtiges Begriffspaar: das des »symbolischen Todes«, verbunden mit »Wiedergeburt« oder »göttlicher Geburt«. In der Entgegensetzung wird damit die Bedeutung menschlicher Geburt zunehmend zurückgedrängt. Verbunden wird als Mythem Ismael mit menschlicher, Isaak mit göttlicher Geburt. Nach dem (symbolischen) Opfer ist dieser ein Produkt göttlicher Geburt.

K. gesteht, dass auf der narrativen Ebene von einem tatsächlichen Opfer Isaaks nicht die Rede ist. Im Gegenteil: von seiner Bewahrung vor einem Opfer! K. argumentiert: »Š through making the sacrifice the centre of the text it [Gen 22] creates the structural possibility that the sacrifice actually occurred.« (114) Auch die in der Erzählung abseits stehenden beiden zurückbleibenden jungen Diener werden symbolisch gedeutet (als Ismael und Eliezer, Adoptivsohn Abrahams [160], wie auch der Widder als Ersatzopfer).

Von einem entsprechenden Ansatz aus werden weiterhin andere Genesiserzählungen interpretiert: Gen 37, der Anschlag auf Joseph, der durch seine Brüder in eine Grube geworfen und damit symbolisch getötet wird, als invertiertes Muster zu Gen 22 (116 f.). Aus der Nachgeschichte ist erwähnenswert, dass das Neue Testament an die Stelle Israels als völkische Größe eine durch symbolischen Tod/Wiedergeburt [Taufe] geschaffene Glaubensgemeinschaft setzt (133­139).

Kapitel 4 »The Bridegroom of Blood« (147­167) deutet die rätselhafte Episode Ex 4,20­26. Die Rätselhaftigkeit ist nach K. bewusst geschaffen: Sie erlaubt im Mythem Tod/Wiedergeburt (Gen 17; vgl. 15 zu Abram/Abraham als Parallele) eine mögliche Transformation beider Beteiligten (Zipporas von der Ausländerin zu einer passenden Ehefrau; Moses oder seines Sohnes zum passenden Gatten). Beschneidung ist symbolisches Opfer, in der Wüste als zwischenvölkischem Raum vollzogen. Kapitel 5 über gefährliche Frauen und relativ sichere Schwestern (168­210) interpretiert die Texte Gen 12, 20 und 26 nach dem soziologischen Gesichtpunkt »außen-innen«. Es überwiegt Endogamie. »Segmentäre Opposition«: eine gegenseitige Abgrenzung (»außen«) kleiner Gruppen sucht eheliche Bindungen mit möglichst nahen Verwandten. Wird die Frau zur Schwester (so die Deutung der Erzählungen), ist sie »innen«, deshalb weniger gefährlich. ­ Das parallele narrative Motiv der drei Erzählungen ist freilich weit davon entfernt. Kapitel 6 »Israel and the Nations« (211­237) charakterisiert die verschiedenen Nachbarvölker in israelitischer Sicht. Das Schlusskapitel (Kapitel 7; 238­246) fasst die Absichten des Bandes noch einmal zusammen.

Der Strukturalismus als Methode ist seit Jahrzehnten bekannt. K. macht ihn wieder reizvoll durch einen konsequent durchgeführten Gesamtansatz. Dabei ist viel Spürsinn investiert. Das Hauptproblem ist, dass dabei die Skopoi der einzelnen Erzählungen, wie sie auf der narrativen Ebene sichtbar sind (wie etwa die Rettung des Erben durch göttliches Eingreifen nach scheinbar gegensätzlichem Auftrag und das Moment gläubigen Gehorsams in Gen 22), in keinem erkennbaren Zusammenhang mit der angenommenen mythischen Struktur in Ebene S2 stehen. Dieses Verhältnis wäre noch zu begründen.