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Ausgabe:

September/2006

Spalte:

979–981

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Berthelot, Katell:

Titel/Untertitel:

L¹»humanité de l¹autre homme« dans la pensée juive ancienne.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2004. VIII, 304 S. gr.8° = Supplements to the Journal of the Study of Judaism, 87. Lw. Euro 110,00. ISBN 90-04-13797-1.

Rezensent:

Eberhard Bons

Mit diesem Band legt die in Paris lehrende Autorin in Jahresfrist eine zweite Monographie vor. In ihrem ersten Buch (Philanthropîa judaica. Le débat autour de la »misanthropie« des lois juives dans l¹Antiquité, Leiden-Bosten: Brill 2003) hatte sie die Vorwürfe behandelt, die nichtjüdische Autoren gegen die angebliche Misanthropie der jüdischen Gesetze gerichtet hatten. Das zweite Buch bildet eine sinnvolle Ergänzung zum ersten, insofern es die Idee der Philanthropie zum Gegenstand hat: Die Bereitschaft, anderen in Notlagen zu helfen, ist letztlich in der Einsicht begründet, dass alle Menschen das Band des Menschseins eint, ohne Rücksicht auf ihre nationale oder religiöse Identität. Sie bilden somit eine Schicksalsgemeinschaft, aus der sich niemand lösen kann, ja, die jeden zur Hilfe gegenüber den Schwachen verpflichtet. Diese Ideen sind ohne Zweifel der griechischen und römischen Antike bekannt und genießen im Umkreis der stoischen Philosophie besondere Aufmerksamkeit. Spätestens im 1.Jh. v. Chr. kommen auch Juden mit dieser Gedankenwelt in Berührung. Diese Begegnung veranlasst sie dazu, ihre eigenen Positionen zu entwickeln. Doch wie gehen sie dabei vor? Übernehmen sie Ideen griechischer und römischer Schriftsteller? Werden im Namen biblischer Vorstellungen anthropologisch-ethische Theorien der griechischen und römischen Antike transformiert? Sind schließlich Texte wie Gen 1,27­29; 9,6 dazu geeignet, die Idee der gleichen Würde aller Menschen auch mit einem biblischen Fundament auszustatten?

Damit sind die zentralen Fragen gestellt (vgl. 5), die B. in ihrer Monographie zu beantworten sucht. Diese gliedert sich in vier Kapitel, deren drei erste jeweils rund 80 Seiten umfassen; das vierte zählt nur 25 Seiten. Es folgt eine »Conclusion« (266­273), in der B. auf die eingangs gestellten Fragen zurückkommt. Eine ausführliche Bibliographie, ein Autorenregister und Verzeichnisse der zitierten Stellen aus biblischer und außerbiblischer Literatur schließen das Buch ab. Nicht geliefert wird ein Register der hebräischen, griechischen und lateinischen Termini, die über das ganze Buch verstreut sind.

Im ersten Kapitel (11­87) geht es darum, den philosophischen Hintergrund zu bestimmen, vor dem jüdische Autoren in hellenistisch-römischer Zeit ihre eigenen Gedanken zum Thema der Philanthropie entwickeln konnten. Dazu stellt B. die griechischen und römischen Autoren vor, die sich diesem Thema und den sich daraus ergebenden ethischen Konsequenzen widmen. Der Überblick, den B. bietet, beginnt mit den Pythagoreern und endet mit der späteren Stoa (Seneca, Musonius Rufus, Epiktet). Dabei arbeitet sie u. a. folgende Vorstellungen heraus, die hier nur vereinfacht wiedergegeben werden: Spätestens seit Aristoteles kennen die Autoren die Idee des dem Menschen eigenen Wohlwollens gegenüber anderen Menschen, vor allem gegenüber denjenigen, die Hilfe benötigen. Dabei sind verschiedene Grade der Nähe zu unterscheiden, die sich auf drei reduzieren lassen: Familie, Angehörige derselben Stadt oder desselben Volkes sowie Menschen aller Art. Wenn auch die Hilfsbereitschaft auf der Ebene der Familie am stärksten ausgeprägt ist, betonen verschiedene Autoren die Pflicht, jedwedem Bedürftigen wenigstens mit elementarer Hilfe beizustehen. Die gemeinsame Herkunft aller Menschen gebiete diese Solidarität. Umstritten ist aber immer wieder, inwiefern etwa Sklaven sowie Menschen, die sich nicht der Vernunft und der Tugenden befleißigen, mit der Philanthropie der anderen rechnen dürfen und ob diese nur eine Disposition darstellt oder zur menschlichen Natur gehört.

Im zweiten Kapitel (89­165) geht es um die Frage, inwiefern das Paradigma der gemeinsamen menschlichen Natur sowie der gemeinsamen condition humaine jüdischen Autoren bekannt ist. Dieses Paradigma äußert sich z. B. in der so genannten Goldenen Regel, aber auch in der Vorstellung, dass das Glück nicht von Dauer ist und jeden Menschen Armut und Elend treffen können. Daraus ergibt sich die Verpflichtung, dem Bedürftigen beizustehen. Solche Gedanken findet B. im Gedicht des Pseudo-Phocylides (V. 22­31). Philo von Alexandrien wiederum ist der Wert der koinonia , eines am Gemeinwohl orientierten Verhaltens, bekannt; ebenso ist er davon überzeugt, dass alle Menschen eine gemeinsame Natur haben und es darum nicht erlaubt sei, etwa den Sklaven am Sabbat arbeiten zu lassen (124 f.). Die Grenzen dieses Denkens zeigen sich aber, wenn Philo zwischen jüdischen und fremden Sklaven differenziert und eine unterschiedliche Behandlung beider zu akzeptieren scheint (132­133.137). Somit hat die Idee der gemeinsamen Menschennatur bei ihm nur begrenzte ethische Auswirkungen.

Das dritte Kapitel (166­239) behandelt die Frage, ob jüdische Texte aus hellenistisch-römischer Zeit ethische Folgerungen aus der Idee der Gottebenbildlichkeit aller Menschen ableiten. Einer der wenigen Zeugen einer solchen Auslegung von Gen 1,26­27 ist eine Passage des Slawischen Henochbuches (44,1­3). Sobald jedoch das göttliche Gericht gegenüber den Sündern oder ein ethischer Determinismus in den Vordergrund treten, muss der Gedanke der Gottebenbildlichkeit und Gleichheit aller Menschen an Bedeutung verlieren.

Das letzte Kapitel (240­265) handelt vom Gebot Lev 19,18 und seinen ethischen Auswirkungen. Wiederum zeigt die Analyse verschiedener Texte, dass der Nächste nicht ein beliebiger Mensch zu sein scheint, sondern derjenige, der dieselben Werte vertritt oder derselben religiösen und/oder politischen Gruppe angehört.

Als Ergebnis hält B. u. a. folgende Gemeinsamkeiten zwischen jüdischen und nichtjüdischen Autoren fest (265­273): Beide kennen Hierarchien innerhalb der Menschheit ­ trotz der Idee der Gleichheit aller. Das erklärt auch, dass niemand die Institution der Sklaverei in Frage stellt. Schließlich teilen jüdische wie auch nichtjüdische Autoren die Idee der imitatio Dei , die die Philanthropie letztlich begründet. Die Frage, ob jüdische Texte eine humanistische Ethik kennen, beantwortet B. mit einem vorsichtigen Ja. Insgesamt gesehen bleibt aber die Zahl der in Frage kommenden Texte gering.

Die Monographie ist verständlich geschrieben und übersichtlich gegliedert (bedauerlich ist, dass einige Zwischenresümees im Inhaltsverzeichnis nicht erkennbar sind, vgl. 81­87.163­165.237­239.264­265). Die Interpretationen sind ausgewogen und begründet und zeugen von einer profunden Kenntnis der Texte und der Sekundärliteratur. Nur zwei Kritikpunkte seien erwähnt: 1. Ein Text wie 4Makk 12,11.13, der für B.s Fragestellung wenig verwertbares Material bietet, wird zu ausführlich behandelt (151­164). 2. Die grundsätzliche Unterscheidung zwischen immanenter und transzendenter Begründung ethischer Normen, wie B. sie vertritt, wird den jüdischen Autoren, besonders Philo, kaum gerecht. Diese beiden Kategorien scheinen sich wenig für die Differenzierung zwischen Argumenten biblischer und philosophischer Provenienz zu eignen.