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Ausgabe:

Juli/August/2006

Spalte:

938–940

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Kutting, Dirk

Titel/Untertitel:

Gesinnungsbildung. Die humanistische Schul- und Bildungstheorie Hartmut von Hentigs in theologischer Sicht.

Verlag:

Marburg: Elwert 2004. XII, 282 S. gr.8° = Marburger Theologische Studien, 82. Kart. Euro 29,00. ISBN 3-7708-1263-8.

Rezensent:

Bernhard Dressler

Dirk Kutting will »wissen, wie ein Pädagoge, der der humanistischen Bildungstradition entstammt, das Problem der Gesinnungsbildung löst« (4). Er kommt in dieser Tübinger systematisch-theologischen Dissertation zu dem Schluss, dass der Erziehungswissenschaftler Hartmut von Hentig exemplarisch für die »Gesinnungsvergessenheit« der Reformpädagogik seit den 60er Jahren (2) stehe. Die »Reformpädagogik« fordere zwar »mehr als eine Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten«, vermeide dabei aber, »das Thema Gesinnung und ihre Bildung eigens in den Blick zu nehmen« (2). Die ­ vermeintliche ­ religiös-weltanschauliche Abstinenz, der Versuch also, »Pädagogik als autonome wissenschaftliche Disziplin zu begründen« (3) und dabei das, was Bildung material beinhalte, ohne Rekurs auf die Orientierungskraft von Religion oder Weltanschauung zu bestimmen, hält K. für einen Irrtum, den von Hentig teile, obwohl er Bildung durchaus »in einem umfassenden Sinne als Menschenbildung und nicht eingeschränkt als technische Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten versteht und für ihn Schule mehr ist als eine Lernanstalt« (10). De facto komme keine pädagogische Theorie, die die Erziehungswirklichkeit nicht ausblende, an der Reflexion dessen vorbei, was bewusst oder unbewusst die Bildung von Gesinnung beeinflusse: »Gesinnungen haben Einfluß auf jede erzieherische Praxis und pädagogische Theorie. Es ist daher um der Funktionalität pädagogischer Theorie willen nötig, diese Gesinnung zu explizieren. Das gilt auch und besonders für eine öffentlich verantwortete erzieherische Praxis, weil dies die einzige Möglichkeit ist, die Intention ethischer Orientierung in der öffentlichen Erziehung zu kontrollieren und die Kinder weitgehend vor Manipulation zu bewahren« (8). K. macht Front gegen das, was er als pädagogisches Selbstmissverständnis diagnostiziert, nämlich dass sich die Pädagogik »neutral zu religiös-weltanschaulichen Wirklichkeitsverständnissen« verhalte, und tritt »demgegenüber Š für Offenlegung und Explikation von religiös-weltanschaulichen Wirklichkeitsverständnissen in Schul- und Bildungstheorien ein« (19). K. gelangt vor diesem Hintergrund zu einigen durchaus plausiblen Erkenntnissen über das pädagogische Denken Hartmut von Hentigs, etwa dass bei ihm das »Verhältnis von Deskription und Präskription Š dunkel« bleibe (108) oder dass sein Konzept der »Gesinnungsbildung durch die Schulpolis« recht eigentlich auf eine »zivilreligiöse Utopie« hinauslaufe (253).

Nun ist die ideologiekritische These dieser Arbeit nicht neu. Sie verlangt freilich die Beachtung einiger altehrwürdiger Probleme der pädagogischen Theoriebildung, die das paradoxe Verhältnis zwischen vorauszusetzender und erst zu ermöglichender Freiheit in erzieherischen Beziehungen berühren. Dass Gesinnung »nicht unmittelbar weitergegeben wird, wie etwa der Stab beim Staffellauf« (7), wird man sich freilich schon gedacht haben ­ wie genau K. sich ihre »Weitergabe« aber denkt, dazu würde man doch gern etwas mehr wissen. Bei allen interessanten Einsichten, die das Buch vermittelt, lässt es den Leser aber eher ratlos zurück. Es bleibt unklar, ob mit der Arbeit eine Rekonstruktion der Theorie Hartmut von Hentigs oder die Konstruktion einer eigenen erziehungswissenschaftlichen These (die dann kritisch vor dem Hintergrund von Hentigs zu profilieren wäre) angestrebt wird, ob ein eher systematisches oder ein rekonstruktiv-biographisches Interesse verfolgt wird. Recht eigentlich entscheidet sich K. nicht zwischen diesen Möglichkeiten und wird deshalb keiner gerecht. Zudem: Handelt es sich um eine systematisch-theologische Dissertation? Eine differenziertere theologische Auseinandersetzung mit von Hentig, die über eine eher allgemein ideologiekritisch begründete These hinausginge, bietet die Arbeit nicht. Sie gelangt auch religionspädagogisch über einige skizzenhafte Andeutungen nicht hinaus. Aus der Not fachlicher Unterbestimmtheit wird indes kaum eine interdisziplinäre Tugend.

Ärgerlich ist eine zuweilen holzschnittartige, deduktive Subsumtionslogik: »In der modernen Erziehungswissenschaft rivalisieren zumeist zwei Menschenbilder miteinander. Ist sie empirisch-analytisch ausgerichtet, versteht sie den Menschen als Verstandesmensch. Ist sie kritisch-dialektisch ausgerichtet, versteht sie den Menschen als emanzipierten Menschen« (17). Mit solchen (und anderen, z. B. gesellschaftstheoretischen, 18) Vereinfachungen wird man im erziehungswissenschaftlichen Diskurs nicht bestehen können.

K. strebt nicht nur die Rekonstruktion des (gesinnungs-)bildenden Konzepts von Hentigs an, sondern auch die seiner »Gesinnung« selbst (und die seines Vaters): Da beider Gesinnung »sich in allen Darstellungen selbst verborgen bleibt«, müsse ihre Gesinnung durch Textanalyse rekonstruiert werden: K. will »durch alle möglichen pädagogisch-politischen Selbststilisierungen hindurch nach dem Wesen der Gesinnung von Werner Otto und Hartmut von Hentig Ausschau halten«. Methodisch ist das mehr als fragwürdig, ebenso, wenn etwa unmittelbar aus einer Bemerkung von Krockows über das preußische Beamtentum auf Werner Otto von Hentigs »Gesinnung« geschlossen wird.

Was trägt die ausführliche (und durchaus lesenswerte) ideengeschichtliche Rekonstruktion der verschiedenen Strömungen des Humanismus aus, wenn von Hentig denen dann ohne nähere Begründung zugeordnet wird? So werden am Schluss der Arbeit Nohl, Dilthey und Schleiermacher als Repräsentanten der »geisteswissenschaftlichen Pädagogik« jeweils kurz dargestellt (235 ff.), um an ihrem Beispiel zu zeigen, »daß Gesinnungsbildung ein Grundproblem von Bildung überhaupt« sei (251) ­ aber von Hentig wird auch nicht ansatzweise zu den genannten Autoren in Beziehung gesetzt.

K. folgert, die »Pädagogik müßte Gesinnung als Aufgabe erzieherischen Handelns überhaupt wieder als Problem ihrer Theorie in den Blick nehmen« ­ leider bleibt das auch nach seiner Arbeit ein uneingelöstes Desiderat. Allenfalls wird mit nur angedeuteten Bezügen auf Härle, Herms und Preul (254 f.) vage in die Richtung gewiesen, in der K. das Problem der »Gesinnungsbildung« gelöst sehen will. Was fehlt, sind differenziertere Auseinandersetzungen mit dem problematischen, aber durchaus nicht grundlos im Verlauf der neuzeitlichen Theoriegeschichte immer wieder erhobenen Autonomiepostulat der Pädagogik. Auch die von K. vertretene Position kommt ja nicht an den grundlegenden pädagogischen Paradoxien vorbei­ wie nämlich auf die »Gesinnung« von Edukanden Einfluss zu nehmen sei, ohne deren freie Selbstbildung zu beeinträchtigen, wie also ­ so bekanntlich die klassische Frage von Kant ­ die »Freiheit bei dem Zwange kultiviert« werden könne. Wie kann »Gesinnungsbildung« indoktrinationsfrei gedacht werden? Hierzu wird man freilich kaum einen Gedanken finden. »Theologisch gesprochen ist die Bildung von Gesinnung mit der Frage der Heiligung der Person verbunden« (1) ­ diese These hätte man sich doch im Verlauf der Arbeit etwas genauer ausgeführt gewünscht, und zwar zunächst im Kontext einer rechtfertigungstheologisch reflektierten Bildungstheorie, in der zwischen Bildung und Erziehung analytisch zu unterscheiden wäre, um dann aber auch wenigstens ansatzweise handlungstheoretische Kriterien für die pädagogische Praxis in Aussicht zu stellen.

Unter der Überschrift »Werteerziehung und Religionsunterricht« (212 ff.) klingt an, was ein eingrenzbares, aber interessantes Thema wäre: Wie von Hentig Religionsunterricht für die öffentliche Schule beurteilt. Das Thema wird leider nur kurz und ohne systematische Auseinandersetzung gestreift. Eine bisweilen sehr eigenwillige Interpunktion erschwert die Lektüre.