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Ausgabe:

Juli/August/2006

Spalte:

935 f

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Bartels, Johannes

Titel/Untertitel:

»mitten in die Seele hinein«. Das Enneagramm im Kontext religiöser Erwachsenenbildung.

Verlag:

Münster: LIT 2005. IV, 314 S. m. Abb. 8° = Religionspädagogische Kontexte und Konzepte, 13. Kart. Euro 17,90. ISBN 3-8258-7278-3.

Rezensent:

Gottfried Orth

An dem Beispiel der Rekonstruktion und Analyse des Enneagramms als Thema religiöser Erwachsenenbildung (7 f.) will B. praktisch-theologische Theoriebildung als eine »phänomenologische Topographie zeitgenössischer Religionskultur« (Steck) durch Empirie gestützt entwerfen und voranbringen, um »für das eigene Lebens- und Glaubensverständnis etwas zu lernen. Vielleicht« ­ so ein implizites Ziel dieser Münsteraner Dissertationsschrift ­ »kann die Begegnung mit ðdem AnderenÐ dazu beitragen, die eigenen Einseitigkeiten aufzudecken und die eigene Selbstgenügsamkeit zu entlarven« (290).

Zunächst erläutert B. die historische Genese des Enneagramms und stellt vor und diskutiert exemplarische Modelle des gegenwärtigen Verständnisses und der gegenwärtigen Arbeit mit dem Enneagramm. Dabei wird deutlich, dass das Alter des Enneagramms nicht zu klären ist und ­ »egal wie alt die Enneagramm-Figur ist, fest steht jedenfalls, dass die Typologie höchstens fünfzig Jahre alt ist« ­ das Enneagramm also »ursprünglich nichts mit Persönlichkeitsmustern zu tun hatte und erst später zur Charaktertypologie umgedeutet wurde« (59 f.).

Nach der Kartographie des Enneagramms erläutert und diskutiert B. drei Grundbegriffe einer allgemeinen andragogischen Bildungstheorie: perspektivenverschränkende Bildung (Giesecke, Tietgens, Arnold, Schüssler), deutungsmusteranknüpfende Bildung (Oevermann, Thomssen, Dewe, Arnold) und transformative Bildung (Dewe und Nipkow). Die dabei gewonnenen bildungstheoretischen Klärungen werden jeweils mit der von R. Englert entworfenen Theorie einer religiösen Erwachsenenbildung (1992) verknüpft, woraus sich die Fragestellungen ergeben, die für die empirische Untersuchung des bildungspraktischen Umgangs mit dem Enneagramm leitend werden.

Den Hauptteil der Studie bildet nun die methodisch ausgesprochen reflektierte Untersuchung eines Zürcher Enneagramm-Seminares mit der amerikanischen Psychologin Helen Palmer. Im Rahmen einer qualitativen Fallstudie mit den Möglichkeiten der teilnehmenden Beobachtung und der Analyse auf Tonband mitgeschnittener Diskussionen und Gespräche wird diese Veranstaltung nun hinsichtlich ihrer pädagogischen und theologischen Gesprächsfiguren analysiert und interpretiert.

Hinsichtlich der pädagogischen Gesprächsfiguren geht es ­ unter ständiger Wahrung der Differenz von Bildungssituation im Erwachsenenbildungsseminar und fiktiver therapeutischer Situation ­ zunächst um die Darstellung und Erarbeitung von Ambivalenzerfahrungen, die in den Gesprächen als Spannungsmomente auftauchen, bearbeitet und wach gehalten werden. Zweitens geht es um Amplifikation, eine aus der antiken Rhetorik geläufige Gesprächsfigur, die dazu dient, Äußerungen mit unterschiedlichem Bildmaterial anzureichern, um sie bearbeiten zu können. Drittens geht es um Identifikationsangebote, die Selbsterkenntnis ebenso ermöglichen können wie sie auch auf Selbsttranszendenz hinsichtlich neuer Erkenntnis- oder Lebensperspektiven zielen können. Beide ­ Selbsterkenntnis und die Möglichkeit zur Selbsttranszendenz ­ können zu einem Geständnis führen: Die/der Gesprächspartner/in offenbart ihre/ seine »Schwachstelle« und erfährt seitens der »spirituellen Lehrerin« Solidarisierung. Haben die bisher analysierten Gesprächsfiguren eher eine »mäeutische Einstellung« zur Voraussetzung, so wird diese in der nun folgenden »stellvertretenden Deutung« der spirituellen Lehrerin verlassen: Jetzt geht es um den »riskanten Vorgang« einer Fremddeutung, wobei im Kontext der Erwachsenenbildung das Ziel pädagogischer Intervention letztlich die »Selbstaufklärung« der Teilnehmenden bleiben soll.

Sollen so unter pädagogischem Gesichtspunkt die Deutungsmuster der Teilnehmenden artikuliert und für Transformationsmöglichkeiten geöffnet werden, so wird in den Gesprächen, versteht man sie als Form theologischer Kommunikation, Ähnliches deutlich, wenn nun ebenfalls fünf theologische Gesprächsfiguren analysiert und interpretiert werden: Es sind diese das Sünden-, Gnaden-, Gottes-, Kontemplations- und Transformationsmotiv. Dabei kann B. zeigen, dass »die behandelten Themen ganz auf die Perspektive der Teilnehmenden zugeschnitten werden und durch religiöse Deutungsangebote qualifiziert und herausgefordert werden« (247).

Werden von B. abschließend diese Theologoumena an den »Schaltstellen« von Enneagramm-Seminaren in religiöser Erwachsenenbildung theoretisch bedacht und weitergeführt, zeigen sich exemplarisch folgende Orientierungen: 1. Das Enneagramm nicht gesetzlich im Sinne eines geschlossenen Systems, sondern heuristisch im Sinne eines offenen Systems didaktisch einzusetzen, könnte bedeuten, sich durch die befreiende Botschaft des Evangeliums zur Selbsterkenntnis überführen zu lassen. 2. Die Arbeit mit dem Enneagramm könnte den Mythos selbst herstellbarer Ganzheit und abschließender Realisierbarkeit personaler Identität aufgeben zu Gunsten der Akzeptanz fragmentarischer menschlicher Existenz in der grundsätzlichen Gebrochenheit menschlichen Lebens (vgl. H. Luthers Überlegungen zu Identität und Fragment), die auf ursprüngliche oder noch ausstehende Ganzheit verweist. 3. Dazu bedarf es freilich der Erkenntnis des Menschen als Sünders, der sich selbst eben nicht hin auf »die erlöste Seite« bewegen kann, sondern dazu der frohen Botschaft der Rechtfertigung und Befreiung bedarf; deshalb bestimmt B. mit Ebeling »Selbsterkenntnis letztlich« als eine »Sache des Glaubens« (282).

4. Die Folge dieser drei Gesichtspunkte könnte es sein, mit Seminargruppen zum Enneagramm einen Weg zu gehen weg von der »Selbstvergewisserung der Fortgeschrittenen«, denen das Enneagramm auch »zu einer verfeinerten Kultur der Eitelkeit« werden könnte, und hin zu einer »Gemeinschaft der Verwundbarkeit«, in der grundsätzlich alle der Hilfe bedürfen, wie auch alle zur Hilfe fähig sind (vgl. U. Bachs Überlegungen zur Diakonie).

Die Qualität dieser Arbeit zur religiösen Erwachsenenbildung sehe ich unter vier Gesichtspunkten: erstens in der klaren und unideologischen Einführung in die Genese des Enneagramms und in Praxismöglichkeiten mit ihm; zweitens in der stringenten Anwendung allgemeiner andragogischer Kategorien für die Analyse und Interpretation von Enneagramm-Seminaren; drittens in der Erhebung theologischer Kategorien aus dem gesammelten Material des Züricher Enneagramm-Seminares und deren sensibler Anwendung zur Kritik und Erweiterung der Möglichkeiten von Ennegramm-Seminaren im Kontext religiöser Erwachsenenbildung. Dabei kritisiert B. viertens nicht von außen Enneagramm-Seminare oder tritt ihnen mit apologetischem Interesse gegenüber, sondern sucht sie aus dem, was in ihnen an religiösen und theologischen Möglichkeiten angelegt ist, zu qualifizieren. Damit verfolgt er das Ziel, »die hohe Popularität eines zurzeit breitenwirksam ventilierten Themas mit einem anspruchsvollen Programm religiöser Bildung (zu) verbinden« (291)