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Ausgabe:

April/1998

Spalte:

416 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Ritsert, Jürgen

Titel/Untertitel:

Kleines Lehrbuch der Dialektik.

Verlag:

Darmstadt: Primus 1997. VI, 228 S. 8°. Kart. DM 29,80. ISBN 3-89678-040-9.

Rezensent:

Günther Mensching

Jürgen Ritserts "Kleines Lehrbuch der Dialektik" sollte man von hinten zu lesen beginnen. In den letzten beiden Kapiteln, die den dritten Teil ausmachen, kommt zum Vorschein, was die Intention des Buches ist. Der Teil ist insgesamt zwei "Beispielen" dialektischen Denkens in den Sozialwissenschaften der Gegenwart gewidmet, nämlich Adornos "negativer" und Roy Bhaskars "kritisch-realistischer" Dialektik. Die Wendung zu diesen beiden sonst vollkommen unvergleichbaren Autoren ist aus R.s professioneller Präokkupation, der soziologischen Methodenlehre und der Logik der Sozialwissenschaften, zu verstehen.

Von hierher wäre zu erwarten gewesen, daß der Vf. sein Thema an einem spezifischen Material erörtert und etwa die Frage behandelt hätte, ob und in welcher Weise die Sozialwissenschaft auf die Dialektik als Methode angewiesen ist, oder ob vielmehr ihr Gegenstand selbst die vielberufene dialektische Struktur aufweist. Eine klare Stellungnahme hierzu findet sich in dem Buch nicht, obwohl dessen historisch weit ausholender Aufbau nahelegt, die dialektische Position als die der modernen Gesellschaftstheorie angemessenste zu begreifen. Auffallend ist indessen, daß R., der doch Adornos Lehre von der Dialektik aufgrund seiner akademischen Herkunft gut kennen müßte, diese in einem zentralen Punkte verzeichnet. Adorno vertrat die in seinen Werken vielfältig erläuterte These, daß die gesellschaftliche Totalität dergestalt antagonistisch sei, daß sie alle besonderen gesellschaftlichen Erscheinungen, namentlich die einzelnen Menschen, innerlich so präge, daß ihre Individualität zum Schein wird. Diese immer wieder gemachte Erfahrung der Realität nötige die Sozialwissenschaft zur Dialektik.

R. greift aus den bei Adorno stets sachhaltigen Überlegungen nur den Begriff der Nichtidentität heraus, um daran auf 25 Seiten (147-182) nichts anderes zu zeigen, als daß er ein "zusammenfassender Ausdruck für eine komplexe Fülle philosophischer und soziologischer Probleme" (161) sei. Adornos negative Dialektik bleibt in ihrer geschichtsphilosophischen Bedeutung unbegriffen. Nicht "zahllose gesellschaftliche Antagonismen" (158) sind Adornos Thema, sondern die Übermächtigkeit eines einzigen, der mit dem Kapitalismus gesetzt ist.

Wenn auch das Buch nicht mit Adorno endet, sondern mit Bhaskars Dialektik als "Logik der Absenz", so will es doch deutlich die Kritische Theorie dadurch aktualisieren, daß die geschichtliche Entstehung der Dialektik aus der klassischen Logik relativ ausführlich nachgezeichnet wird. Dieses durchaus sinnvolle Unternehmen, durch das die gedankliche Beziehung der sehr divergenten Bestimmungen des Begriffs der Dialektik untereinander hätte deutlich werden können, führt R. freilich so durch, daß eine klare Linie nicht erkennbar ist.

Der anspruchsvolle Weg von Platon zu Aristoteles und dann zu Kant und Hegel erscheint in R.s Darstellung als mehr oder weniger willkürlich. Weder legt er den antiken Ursprung der Dialektik als Lehre vom Widerspruch wirklich dar noch wird er Kant und Hegel gerecht. So kommt Hegels Negation der Negation, der spekulative Kern seines Denkens, gar nicht zur Sprache. In einem noch so kleinen Lehrbuch der Dialektik hätte man zudem mit Grund eine Passage über Marx und den auf ihn sich berufenden dialektischen Materialismus erwarten können. Beides übergeht R. mit einigen saloppen Bemerkungen auf einer Seite (125). So ist sein "Lehrbuch" weder ein historischer Grundriß noch eine systematische Abhandlung, die ihre eigenen Schwerpunkte setzt. Durch die Anordnung der Teile entsteht der Eindruck der historischen Folgerichtigkeit, aber dieser wird spätestens destruiert, indem Marx aus der Adornoschen Dialektik herausoperiert wird. So freilich wird Adorno zum Chaostheoretiker, dessen Dialektik nur ein Ausdruck für die Komplexität der "vielschichtigen Problemfelder" sein kann. R.s sechs "Hauptdimensionen des Nichtidentischen" (161-180), können keine Ordnung stiften, wo die theoretische Grundlage entfernt ist.

So begrüßenswert ein zeitgemäßes Buch über die in der Tat unzeitgemäß gewordene Dialektik wäre, so bedauerlich ist es, wie weit R.s Arbeit hiervon entfernt ist. Nicht allein die zahlreichen sachlichen Ungenauigkeiten und Fehler, sondern vor allem auch die sprachliche Gestalt ist zu beklagen. Lockere Sprüche im Stile des Entertainment mischen sich mit hochgestochenen Floskeln aus dem verwalteten Wissenschaftsbetrieb. Die angestrengte Ironie, mit der der Autor über den Sachen stehen will, kann nicht verdecken, daß er in ihnen nicht wirklich zu Hause ist.