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Ausgabe:

Juli/August/2006

Spalte:

929–932

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Shriver, Jr., Donald W.

Titel/Untertitel:

Honest Patriots. Loving a Country Enough to Remember Its Misdeeds.

Verlag:

Oxford-New York: Oxford University Press 2005. XII, 348 S. m. Abb. gr.8°. Geb. £21,50. ISBN 0-19-515153-4.

Rezensent:

Ralf K. Wüstenberg

Das Buch des amerikanischen Sozialethikers und früheren Präsidenten des renommierten Union Theological Seminary in New York gehört zu den gut lesbaren und wirklich spannenden Büchern, für das man eine Verbreitung auch über die Grenzen theologischer Fachrezension erhoffen kann. Donald W. Shriver legt hier seinen zweiten großen Wurf vor: Nach »An Ethics for enemies« (ebenfalls Oxford-New York 1995) nun »Honest Patriots«. Stand im Buch von 1995 die politische Dimension der Vergebung im Zentrum, so zehn Jahre später die des Erinnerns (»remembrance«) und der Umkehr (»repentance«).

Den inneren Zusammenhang beider Studien sieht S. darin, dass zur Vergebung in der Perspektive der Opfer von Gewalt notwendig die Erinnerung und die Umkehr auf Seiten der Täter gehören (VII und 5 f.). Nur wo an Unrecht erinnert wird, sind Rahmenbedingungen für die Vergebung derer gegeben, die Opfer dieses Unrechts wurden.

In »Honest Patriots« legt S. dem amerikanischen Leser die befreiende Kraft des politischen Erinnerns nahe. Er will zeigen, dass man (als Amerikaner) auch dann noch (oder besser: erst dann) als »ehrlicher Patriot« gilt, wenn man an die Gräueltaten großen politischen Unrechts, die im eigenen Land geschahen, öffentlich erinnert. »Loving a country enough to remember its misdeeds« ­ so der bezeichnende Untertitel des Buches. Vergangenheitsbewältigung wird unter dem Gesichtspunkt des Erinnerns zur geistigen Durchdringung der Vergangenheit in einer Weise, dass sie nicht mehr zur Belastung für Gegenwart und Zukunft wird. »Is patriotism possible? Is there a formula for combining civic shame with civic pride to yield an honest patriotism?« (61) ­ das ist die Eingangsfrage.

Pädagogisch geschickt und sachlich kenntnisreich arbeitet sich S. über (seines Erachtens) positive Fallbeispiele der Vergangenheitsbearbeitung vor. Er zeigt auf, wie man sich in Deutschland nach 1945 (15­61) und in Südafrika nach 1990 (63­125) an Unrecht erinnert. Im Anschluss wendet er sich den USA zu, zunächst im Blick auf Unrecht gegenüber den »African Americans« (127­205), dann im Blick auf die »Native Americans« (207­261). Bereits Aufbau und Umfang der Fallstudien suggerieren: Amerika kann von Deutschland und Südafrika lernen. Genauer: Wenn es den Deutschen und den Südafrikanern gelungen ist, sich öffentlich zu erinnern, warum dann nicht auch den Amerikanern? Wenn das Erinnern des Unrechts eine Vergebungsperspektive in anderen Ländern zu eröffnen vermag, dann auch im Hinblick auf staatlich verantwortetes Unrecht in S.s eigenem Land.

Öffentliches Erinnern und politische Umkehr schaffen dabei Rahmenbedingungen für Vergebung. Das ist die theologisch motivierte, politische Botschaft des Buches. »Being human while being American« lautet entsprechend das Schlusskapitel der Studie (263­285), in der die Eingangsfrage aufgenommen und als These erhärtet wurde. »What is celebratable about democracy in America? One answer is: Those public moments and events when we mourn some features of our national past with new present awarness that we must never repeat such events in our future« (5).

»How do a public and its leaders go about the task of repenting of a historical past and building barriers against its repetition?« (6) Diese Frage wird zunächst im Zusammenhang mit den Nazi-Verbrechen in Deutschland behandelt. Dabei konzentriert sich S. wesentlich auf bestimmte Stätten des Erinnerns, eine Linie, die sich durch alle Fallstudien zieht und das assoziiert, was in der Politikwissenschaft unter »Geschichtspolitik« verstanden wird, nämlich die ðsymbolische ErinnerungskulturÐ. Neben den Stätten des Erinnerns (Buchenwald, Auschwitz, Sachsenhausen) fragt S. auch danach, wie Deutschlands führende Repräsentanten des Holocausts gedenken, und weiter, wie Schulbücher den Stoff vermitteln. S. hat also auch die »dritte Generation« im Blick. Kenntnisreich und mit großer Empathie zeichnet er die Erinnerungskultur in Deutschland nach (und gibt auch dem deutschen Leser einen guten, in sich geschlossenen Überblick zu unterschiedlichen Anstrengungen in der Vergangenheitsbewältigung hierzulande). Wertungen bleiben dabei gewiss subjektiv und von manch politischer Brisanz (etwa, ob Herzogs oder von Weizsäckers Rede zum 8. Mai 1945 angemessener der Sache des Gedenkens gedient habe); erhellend sind manche Beobachtungen, die S. bei seinen Recherchen in Deutschland machte, wie z. B. bei Diskussionen mit Berliner Oberschülern aus dem bürgerlichen Steglitz, wo S. mit der verblüffenden Gegenfrage konfrontiert wurde, ob nicht ein zu beobachtender US-amerikanischer Nationalismus in manchem an den Nationalsozialismus erinnere. Auch wenn S. dem öffentlichen Erinnern in Deutschland Tribut zollt, bleibt die Frage letztlich offen (und mit ihr ein wichtiger Beitrag zur immer wieder aufflammenden Diskussion in Deutschland), ob und unter welchen Bedingungen Patriotismus als Kombination aus öffentlicher Scham über Verbrechen der Nazi-Diktatur und Stolz über demokratisch Errungenes auch hierzulande möglich und begrüßenswert ist.

Im Südafrikakapitel (63 ff.) zeichnet S. den Weg des Erinnerns der Apartheidvergangenheit nach. Dabei stehen zunächst Orte im Mittelpunkt: Von der Gefängnisinsel »Robben Island«, auf der Nelson Mandela einen Großteil seines Lebens verbrachte, über den sog. »District six«, einen Teil von Kapstadt, der nach der Zwangsumsiedlung Schwarzer an den Stadtrand in den 50er Jahren von den weißen Kapstädtern aus Protest nicht genutzt wurde, bis zum Holocaust-Museum in Kapstadt. Vergleichsweise wenige Seiten werden auf die zentrale Arbeit der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission verwandt, die durch Anhörung von Tätern und Opfern aus den Tagen der Apartheid alle Zweige der Vergangenheitsaufarbeitung in sich vereinte (wie den narrativen, justitiellen und symbolischen). So liest sich S.s Südafrika-Fallstudie mit dem Schwerpunkt auf die Monumente des Erinnerns als gute Ergänzung zu den einschlägigen Untersuchungen, die die Wahrheitskommission in ihr Zentrum rückten.

Unter der Überschrift »Truth, Reconciliation, and Democracy« (106 ff.) wird der systematische Ertrag der beiden Fallstudien in sieben Kriterien zusammengefasst, die zugleich Ausgangspunkte für die Betrachtung des Umgangs mit Vergangenheit in den USA bieten sollen: »1. Where silence has served injustice, victims deserve special voice« (106­108); »2. Past injustices must be so consigned to the past as to build a barrier against their repetition« (108­111); »3. Some are more responsible, some less, but all are responsible« (111­114); »4. Some must represent others« (114­116); »5. Some power must call the powerful to account« (116­119); »6. Truth helps reconciliation but it is not enough« (119­121); »7. After political nightmare, reconcilers have a long road to travel« (121­125).

Während die Kriterien 1, 2, 4, 6 und 7 ohne weitere Erläuterungen verständlich sein dürften, bedürfen 3 und 5 erläuternder Bemerkungen. Dass einige mehr und andere weniger Verantwortung in totalitären Regimen tragen, ist noch evident; dass alle Verantwortung tragen, hebt auf das »Mitläufertum« ab. Niemand kann nach S. am Ende einer Diktatur sagen, er oder sie habe keine Verantwortung gehabt. Hier hebt S. besonders auf die südafrikanische Situation ab, in der viele leugneten, vom Apartheidunrecht gewusst zu haben, auf der anderen Seite aber von den Vorzügen eines »guten Lebens« im System profitiert haben. Dass es Mechanismen in der Vergangenheitsbewältigung geben muss, die die im juristischen und politischen Sinne Verantwortlichen zur Beteiligung an der Aufarbeitung nötigt (Kriterium 5), hat ebenfalls in Südafrika seinen Anhalt. Die Wahrheitskommission war (im Unterschied zu Vorgängerkommissionen in Lateinamerika) so konzipiert, dass politisch motivierte Straftaten im Zusammenhang der Apartheid dann amnestiert wurden, wenn die Straftäter vor der Kommission aussagten.

Während S. Anhaltspunkte dafür sieht, dass die von ihm herausgearbeiteten Kriterien in der Aufarbeitung von Unrecht in Deutschland nach 1945 und in Südafrika nach 1990 griffen, mahnt er für das Erinnern von Verbrechen im eigenen Land die Umsetzung des Kriterienkataloges an. Er zeigt an vielen kleinen Fallbeispielen ­ zunächst im Blick auf die »African Americans« (127 ff.), dann hinsichtlich der »Native Americans« (207 ff.) ­ auf, wie man sich mit dem öffentlichen Erinnern und Bedauern von ganz offenkundigem Unrecht in den USA schwer tut. Auch in Schulbüchern würden (anders als in Südafrika oder Deutschland) dunkle Kapitel der Geschichte ausgespart oder beschönigt. Überhaupt fehle es an einer vergleichenden Fragestellung: »Nothing suggests that in the rest of the world Americans might look for ideas and beacons not already resident in our own history. What do other national histories have to teach us?« (179) Einen Lichtblick sieht S. in dem Versuch, Momente der südafrikanischen Wahrheitskommission auf das Erinnern von rassisch motiviertem Unrecht in den USA zu transferieren (vgl. 204 f.). Er geht dabei auf den Versuch ein, Unrecht gegenüber den »African Americans« in North Carolina, wo am 3. November 1979 fünf schwarze Gewerkschaftsführer ermordet wurden, mit Hilfe einer Wahrheitskommission zu erinnern. Den Opfern sollte ­ wie in Südafrika ­ eine Stimme gegeben werden, also das Kriterium 1 in Anschlag gebracht werden. Desmond Tutu selbst war an der Entstehung dieser ersten amerikanischen Wahrheitskommission beteiligt.

Wie die anderen beiden Fallstudien lesen sich die beiden großen Fallstudien zu Amerikas rassistischer Geschichte flüssig und gut; sie sind gerade für den nicht-amerikanischen Leser sehr informativ und bieten viel Material, das gut strukturiert dargeboten wird.

Methodisch sei noch angemerkt: Die seit einigen Jahrzehnten auch in der Theologie verbreitete Arbeit mit Fallstudien (»case-studies«) bewährt sich auch hier. Mit der Fallstudienmethode verbindet sich ein rein induktives Vorgehen. Die sieben systematischen Leitkriterien werden aus den Fallstudien erschlossen. Dabei werden von der Gesamtkonzeption empirische Darstellung und normative Wertung methodisch nicht unterschieden. Notwendige deduktive Unterbrechungen beim induktiven Gesamtvorgehen fehlen. Der die christliche Lesart der politischen Ereignisse normativ bestimmende Kodex wird als solcher nicht expliziert; die politische Ethik, die die Untersuchung trägt, bleibt daher implizit. Überhaupt fehlen explizierte theologische Passagen in Darstellung, Anlage und Wertungen der Fallstudien. Bei allem Charme, den ein solches gut lesbares Buch über den theologischen Leserkreis hinaus zu entwickeln vermag ­ begriffliche und inhaltliche Schwierigkeiten eines »rein« induktiven Verfahrens können nicht verschwiegen werden. Politische Versöhnung und Versöhnung als theologische Kategorie erscheinen zuweilen unkritisch ineinander verschränkt, statt kritisch aufeinander bezogen zu werden. Was ist das Spezifikum eines »politischen« Erinnerns im Unterschied zum »biblischen« Erinnern der Geschichte Gottes mit seinem Volk? Kann man ernsthaft von »Buße« oder »Umkehr« (repentance) in der Politik sprechen, gar von »öffentlicher« Buße, ohne nicht wenigstens in einer stipulativen Definition den Zusammenhang und Gegensatz zur contritio geklärt zu haben, auch um dem Verdacht einer naiv-begrifflichen Äquivokation (im Sinne aequivocatio a casu) von vornherein zu entgehen?

Mit diesen Anmerkungen soll die Brisanz und die Bedeutung dieses in vielem auch einfach mutigen Buches nicht herabgestuft werden. Neben der großen Informationsleistung im Hinblick auf drei globale Aufarbeitungsanstrengungen sehe ich den Kernertrag für die politische Ethik im Erarbeiten und Exemplifizieren der sieben Leitkriterien beim Umgang mit »politischer Schuld«, von denen man mit Recht annehmen kann, dass sie in dieser Schärfe nicht in die Diskussion gekommen wären, wenn nicht ein Theologe die gesellschaftlichen Ereignisse interpretiert hätte.