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Ausgabe:

Juli/August/2006

Spalte:

926–928

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Bischof, Sascha

Titel/Untertitel:

Gerechtigkeit ­ Verantwortung ­ Gastfreundschaft. Ethik-Ansätze nach Jacques Derrida.

Verlag:

Fribourg: Academic Press Fribourg; Freiburg-Wien: Herder 2004. 508 S. gr.8° = Studien zur theologischen Ethik, 106. Kart. Euro 54,00. ISBN 3-7278-1491-8 (Academic Press Fribourg); 3-451-28623-8 (Herder).

Rezensent:

Tilman Beyrich

1. Dass sich Derridas Texte schwer systematisieren oder auch nur referieren lassen, ist oft gesagt worden. Um so beeindruckender ist B.s Versuch, gleich beides leisten zu wollen, nämlich eine Verbindung aus einer »Derrida-Base«, d. h. einer Art Enzyklopädie über Derridas Ethik, und einem Kommentar zu den wichtigsten Schriften zum Thema. B. dokumentiert in seiner Dissertation eine souveräne Kenntnis und Durchdringung von Derridas Gesamtwerk: Nach einer gut durchdachten Dramaturgie werden nacheinander verschiedene Texte Derridas aufgerufen, die einen Überblick über Derridas Denkkosmos vermitteln und zugleich in systematischer Hinsicht Substantielles zur Klärung zentraler Begriffe der Ethik beitragen.

a) Im ersten Hauptteil (123­262) dreht sich alles um das Leitwort »Gerechtigkeit«. Rekonstruiert wird diese Thematik vom Begriff der »Iterabilität« aus, den Derrida in seinen frühen Arbeiten über die Schrift entwickelt hat (Teil I/1). Dieser bilde den Hintergrund für Derridas Dekonstruktion des Kommunikationsbegriffs und seiner Auseinandersetzung mit der Sprechakttheorie und der damit zusammenhängenden Gerechtigkeitsthematik, wie sie in den Arbeiten der 80er und 90er Jahre breit entfaltet wird. Im Mittelpunkt steht dabei Derridas Forcierung der »Aporien der Gerechtigkeit«: zum einen im Gegenüber von Gerechtigkeit und Recht, zum anderen in der unvermeidlichen Gründung der Gerechtigkeit auf Gewalt, schließlich in der Unberechenbarkeit, Unentscheidbarkeit und Dringlichkeit, die jede Berufung auf Gerechtigkeit eignen (Teil I/2). Der Teil mündet in eine Rekonstruktion von Derridas Ausblicken auf eine »Gerechtigkeit jenseits des Rechts« (Teil I/3), die versucht, Gerechtigkeit als das »(un)mögliche Ereignis zu denken«. B. entwickelt dies vor allem im Rückgriff auf Signature événement context (1971), Limited Inc (1977) und schließlich auf Force de loi (1989/90) und Spectres de Marx (1993).

b) Der zweite Teil (263­430) steht unter der Überschrift »Verantwortung«. Auch dieser Begriff durchziehe das Gesamtwerke Derridas, und zwar in Verbindung mit dem Thema der »Ökonomie«. Aus Ausgangspunkt wählt B. hier den frühen Aufsatz Violence et métaphysique (1964), in dem sich Derrida mit Levinas auseinandersetzt. Beiden, Derrida und Levinas, gehe es um ein Denken des Anderen, das sich den herkömmlichen Ökonomien der Symmetrie, der Gegenseitigkeit und der sublimen oder offenen Gewalt zu entziehen versucht. Andererseits verortet B. gerade im Begriff der Ökonomie die entscheidenden Anfragen Derridas an Levinas (Teil II/1). Entfaltet wird Derridas Theorie der Verantwortung und deren Aporien dann im Durchgang durch Derridas hochschulpolitische Schriften, vor allem Le droit à la philosophie (1991), und durch eine genaue Kommentierung von Derridas Patocka/Kierkegaard-Lektüre in Donner la mort (1990) (Teil II/2). Am Schluss dieses Teiles steht Derridas Versuch, eine Verantwortung »jenseits der Ökonomie« zu denken: mittels einer Philosophie der Gabe (Teil II/3). Die Hauptreferenz bilden hier Donner le temps (1991) und als Applikation eines Denkens der Gabe auf die Sozialethik Derridas Auseinandersetzung mit dem Gemeinschaftsideal der Freundschaft in Politiques de l¹amitié (1994).

c) Der dritte Teil (431­468) ist schließlich dem Begriff »Gastfreundschaft« gewidmet. Es ist der kürzeste Teil, weil die Textbasis zur Erörterung dieses Themas am schmalsten sei. Ungeachtet dessen bilde aber der Begriff der hospitalité eine Art Zusammenfassung von Derridas Ethik: »die Ethik ist Š die Gastfreundschaft, sie ist durch und durch der Erfahrung der Gastfreundschaft ko-extensiv«, wird Derrida zitiert. Im Zentrum dieses Kapitels stehen Texte Derridas, die sich zeitlich um seinen Nachruf auf Levinas in Adieu ranken: vor allem: Le mot d¹accueil (1996), Cosmopolites (1997), De l¹hospitalité (1997) und Foi et savoir (1994). Auch hier unterstreicht B. noch einmal, wie Derrida an Levinas anknüpft bzw. die bei ihm angelegten Aporien zuspitzt. Dies betrifft vor allem seine Zuspitzung der absoluten Gastfreundschaft auf ein »messianisches Versprechen«, das jedoch jede Bindung an einen bestimmten Messianismus bzw. an jeden geschichtlich bestimmten Erwartungshorizont übersteige.

2. Mit all dem leiste Derrida einen entscheidenden Beitrag zur Fundamental-Ethik. So lautet die Grundthese des Buches, die bereits in der Einführung breit entfaltet wird (11­122). Denn das, was eigentlich nach einem Durchgang durch Derridas Werk zu erwarten wäre, wird von B. gewissermaßen als hermeneutischer Horizont an den Anfang des Buches gesetzt. Gleich im ersten Kapitel »Zur Rezeptionsgeschichte« wird detailliert auf verschiedene Lesarten Derridas in Hinblick auf seine Ethik eingegangen und der eigene Ansatz begründet. B. setzt sich dabei kritisch ins Verhältnis einerseits zu Simon Critchley, der Derridas Texte als »eine Ethik lévinasianischen Typs« bezeichnet, dann zu Axel Honneths Charakterisierung der Ethik Derridas als »eine Ethik der Fürsorge«, weiterhin zu Bernhard Waldenfels¹ Parallelunternehmen einer »responsiven Ethik«, die ohne direkte Bezugnahmen auf Derrida ganz ähnliche Ziele verfolgt, und schließlich zu Jean-Luc Nancys Interpretation Derridas als eine »Wiederholung der kantischen Grundlegung« der Ethik. Auf diese Frage der Moralbegründung überhaupt lässt B. schließlich seine Derrida-Lektüren zulaufen und weiß sich darin vor allem im Gespräch mit Ernst Tugendhat, der sich zwar seinerseits nicht mit Derrida auseinandersetzt, aber von den gleichen Fragen wie dieser umgetrieben wird. Was sich daraus für eine Ethik im Anschluss an Derrida ergibt, lässt sich in folgende Thesen zusammenfassen:

a) Derridas Zurückhaltung gegenüber der Ethik traditionellen Typs entstammt einem Unbehagen gegenüber der Allgemeinheit des Rechts, der Politik und der Ethik. Am Ursprung jeder Moralbegründung stehe aber die Beziehung zum Anderen in seiner Singularität. Wie lasse sich von dort aus »das Gesetz« neu begründen?

b) Die daraus erwachsende »unendliche oder absolute Verantwortung« hat eine unauflösbar aporetische Struktur. Dekonstruktion sei nichts anderes als diese »plurale Logik der Aporie«, nach der eine Aporie die andere heimsucht, ohne durch einen grundlegenden Schematismus aufgelöst werden zu können.

c) Diese »Erfahrung der Aporie provoziert dazu, die Möglichkeit dessen zu denken, das bislang noch undenkbar, ungedacht oder unmöglich ist« (70). Die Ethik der Dekonstruktion zielt auf das (Un)Mögliche im Recht und zugleich jenseits des Rechts, in der Politik und zugleich jenseits aller Politik im herkömmlichen Sinne, innerhalb und jenseits aller Ökonomien.

d) Von der absoluten Verantwortung des Gesetzes zur Ordnung der Gesetze gibt es keinen begründenden Übergang. Die Verantwortung der Dekonstruktion besteht gerade im Hinterfragen der Instanz des »Fundamentalen«. »Derrida versucht im Denken der Gabe und der Sendung einen ðGrundlagendiskursÐ zu entwickeln, der die Konzepte des Grundes und der Begründung in Frage stellt« (72). Die Erfahrung der Aporie sei gleichbedeutend mit dieser ðUnbegehbarkeitÐ einer Methode zur Generierung einer Ethik.

e) »Die Antinomien und Aporien haben die wesentliche Funktion, vor einer Ethik des guten Gewissens zu bewahren« (76).

3. B.s Dissertation gehört zweifellos zu dem Gründlichsten und Informativsten, was im deutschsprachigem Raum bisher über Derrida geschrieben wurde. Wem Derridas Texte rätselhaft erscheinen, findet in B. einen guten Hermeneuten. Nicht nur werden die grundlegenden Theoreme Derridas gut nachvollziehbar expliziert, auch im Detail werden manche Texte durch B. sicher leichter lesbar. Besonders erhellend sind z. B. seine Ausführungen zu Violence et métaphysique (263 ff.) und die dort gegebene Verhältnisbestimmung von Derrida zu Levinas.

Freilich geht das Anliegen B.s, gleichzeitg eine »Derrida-Base« und einen Kommentar bieten zu wollen, auch etwas auf Kosten der Lesbarkeit des Buches selbst: Für eine »Base« ist es mitunter zu weitschweifig, zu sehr bemüht um immer neue Kontextualisierungen, die Derrida bestimmten Themen gibt. Für einen handhabbaren Kommentar zu einzelnen Büchern aber hält sich B. dann wiederum nicht eng genug an die Texte, vor allem nicht an deren Inszeniertheit, an der Derrida doch so viel liegt! Der systematische Zugang verleitet B. m. E. zu sehr, die Texte auf Thesen zu reduzieren (die sich dann doch oft wiederholen), während die dekonstruktive Bewegung des Textes bzw. überhaupt Derridas Stil dabei etwas auf der Strecke bleiben. Auch bietet er einem Hilfe suchenden Derrida-Leser praktisch keine Chance, selektiv auf seine Textparaphrasen zuzugreifen, weil weder das Inhaltsverzeichnis noch ein Register die entsprechenden Kapitel finden lassen. Alles oder nichts, scheint B.s Devise zu sein.

Überraschend ist andererseits die große Zurückhaltung B.s, den theologischen Fährten, die im Thema stecken und die Derrida reichlich legt, genauer nachzugehen. Von einem Buch in der Reihe »Studien zur theologischen Ethik« hätte ich genau das erwartet. Es fehlt jede Bezugnahme auf theologische Arbeiten über Derrida. Nirgends wird explizit das Gespräch mit theologischen Ethikkonzepten gesucht. Und auch den Anknüpfungspunkten dafür bei Derrida wird kaum Beachtung geschenkt. Zwar werden die quasi-theologischen Denkfiguren Derridas (das Messianische, der Glaube, Gott »als Name der Möglichkeit, ein Geheimnis zu wahren« usw.) referiert, aber B. übernimmt sofort Derridas Zurückhaltung als Philosoph, ohne die Möglichkeit zu nutzen, auch als Theologe damit etwas anfangen zu können. M. E. vergibt er sich damit auch für das Verständnis Derridas eine Menge (z. B. wird Derridas Auseinandersetzung mit »seinem« Judentum, etwa in Circonfession u. ö., kaum explizit). Vor allem aber wäre ja zu prüfen, ob nicht in systematischer Hinsicht gerade die theologische Ethik und ihr ganz eigener Zugang zur Moralbegründung in Derrida einen sehr interessanten Gesprächspartner findet. Dass es etwa beim Thema »Gesetz« für Derrida (im Anschluss an Levinas) immer auch um die »Tora« geht oder dass die lutherische Behandlung des »Gesetzes« von ähnlichen Aporien lebt, wie sie Derrida beschreibt, oder dass »Gastfreundschaft« eine der Grundkategorien der alttestamentlichen Ethik bildet usw., wird kaum aufgegriffen.

Freilich: B.s Buch leistet, was es verspricht: eine Rekonstruktion von Derridas Ethik. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Man kann ihm zugute halten, dass am Ende viele interessante Fragen ­ gerade auch für Theologen ­ im Raume stehen.