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Ausgabe:

April/1998

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Neu, Daniela

Titel/Untertitel:

Die Notwendigkeit der Gründung im Zeitalter der Dekonstruktion. Zur Gründung in Heideggers "Beiträgen zur Philosophie" unter Hinzuziehung der Derridaschen Dekonstruktion.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 1997. 403 S. 8° = Philosophische Schriften, 20. Kart. DM 124,­. ISBN 3-428-08737-2.

Rezensent:

Hans-Peter Hempel

Es gilt hier ein wichtiges Buch anzuzeigen. 1. wird, bezogen auf Heideggers "Beiträge zur Philosophie", das eigentliche Spätwerk Heideggers zum erstenmal in den Mittelpunkt einer Erörterung gerückt; 2. werden diese "Beiträge" makellos interpretiert; 3. wird klar und überzeugend argumentiert, wenn auch noch nur erst im Rahmen dieser "Beiträge"; 4. versucht die Vfn. eigene Denkbewegungen, wenn auch etwas zögerlich, die ganz sicher in ihren weiteren Publikationen, auf die man nur gespannt sein kann, ihren Niederschlag finden werden.

Entscheidend ist: Die Vfn. stellt sich dem höchst schwierigen Versuch, denkend dem nachzudenken, was Heidegger zu denken versuchte, ohne daß es ihm, nach seinen eigenen Worten, schon in aller Klarheit und Deutlichkeit gelungen wäre. Die Vfn. tastet sich durch das gesamte Werk Heideggers, also auch durch seine früheren Veröffentlichungen hindurch und aktualisiert damit exakt das, was uns nach Heidegger zu denken heute aufgegeben ist: ob wir nun dem zustimmen oder die Relevanz dieses Denkens für unser gegenwärtiges Denken ablehnen. Nur ein einziger Blick in die Flut der sich heute in Fülle auf dem Markt befindenden Anthologien zur Gegenwartsphilosophie (vgl. u. a. die drei ganz vorzüglichen Bände "Welten im Kampf", Profile der Gegenwartsphilosophie. Hrsg. von Breuer/ Leusch/Mersch [1996]) machen unübersehbar deutlich, daß alle, die heute überhaupt noch wirklich ernst genommen werden wollen, mal etwas mehr, mal etwas weniger ihre Denkexperimente auf Heideggers Schultern üben und dabei auch ganz gut fahren, wenn sie es nur in recht "kritischer" Weise bzw. "kritischem" Gestus, natürlich auch "gegen" Heidegger, tun. Man möchte heute gar nicht glauben, wie viele "Denker" und "Wissenschaftler" Heidegger so schon in Lohn und Brot gebracht hat!

Das kann man von der Vfn. nicht sagen. Sie nimmt, was durch die "Beiträge" angezeigt ist, jetzt endlich die von Heidegger erörterte Struktur des "Gevierts" wirklich ernst (um die sich so viele Heidegger-Exegeten leider immer noch herumdrücken), indem sie von Anfang an aus dem "Geviert" heraus und zu ihm hin "gründend" zu sprechen versucht. Dabei betont die Vfn., daß Heidegger für sie jener bisher einzigartige Denker bleibt, "der in der Frage nach dem Sein am tiefsten in dessen abgründiges Geheimnis (ein)gedrungen" sei "und ­ ohne das Geheimnis ans Licht zerren zu wollen ­ die Möglichkeit und Notwendigkeit seiner anfänglichen Gründung im Da-sein, so wie umgekehrt der Gründung des Da-seins im abgründigen Sein, durchdacht" habe (19).

Heidegger selbst sprach bekanntlich von "Wegen", auf denen es immer wieder, im Grunde von "Sein und Zeit" an, darauf ankam, daß das, was wir noch heute "Philosophie" nennen, sich vom Sichtbar-"machen" oder Anwesen-"machen" zum Sehen- bzw. Hören und Anwesen-"lassen" wandeln müsse. Mit anderen Worten: Seiendes und Sein sollen jetzt nicht mehr als Absolutes, sondern aus dem "Es gibt" des "Ereignens" verstanden werden, was für jeden, der sich mit Heidegger auf den Denkweg begibt, bedeutet: andenkend für die Einkehr in den Aufenthalt im Ereignis vorzubereiten bzw. den Ort für das Wohnen des Menschen und Verweilen der Dinge im Einsprung auf das anfänglichere Seyn, für das Heidegger noch das gemäße Wort fehlte, zu stiften. Die Herkunft des Anwesens und des Seins aus dem Nichts und Ereignis zu denken, und nicht schon gleich wieder den Aufstand gegen das Nichts und das Ereignis (Seyn) zu proben, betont so noch einmal präzise das Grundanliegen der Heideggerschen Spätphilosophie, die so wiederum zu einer Philosophie der Frühe wurde, wenn bedacht wird, daß hier jener andere Anfang gedacht wird, der in der Seinsvergessenheit bis heute ­ nach Heidegger ­ aufbewahrt wurde. Alles ist aus der Stille "gewährt", und alles kann jetzt Anlaß sein, wieder in den Ursprung als Quelle allen Seins zu gelangen.

Heidegger, der so die abendländische Onto-theo-logie, das ist die Metaphysik, zu verwinden versuchte, indem er eben nicht mehr Seiendes und Seiendheit dachte, sondern das "Sein als Sein", sprich: Seyn, das ist die "Lichtung des Anwesens" bzw. das "Anwesen-lassen", betrieb damit auch die Verwindung der uns nicht zuletzt gerade durch ihn so vertrauten ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem, so daß jetzt nicht mehr die Darstellung von Anwesendem in seiner Anwesenheit im Vordergrund der Heideggerschen Erörterungen steht, sondern, wie die Vfn. u. a. zeigt, die verwundene und verwandelte Zwiefalt, aus der sich eben erst das Anwesende wirklich "ereignet".



Immer wieder kreist die Arbeit der Vfn. zu Recht um das Thema der Zurücknahme alles "vorstellenden", "zustellenden", alles "berechnenden" Denkens in den dieses Denken erst ermöglichenden Grund oder, Vice versa: um die Entstehung von Seiendem, dessen Gewährung, Generierung und Ereignung. Wir haben es jetzt also, wenn ich richtig sehe, mit einer dritten, bedeutenden, wenn auch stets gefährdeten Phase des Heideggerschen Denkweges zu tun ­ nach der ersten, fundamental-ontologischen, von "Sein und Zeit", die vorrangig nach dem "Sinn von Sein" fragte, und der zweiten, seinsgeschichtlichen Phase, in deren Mittelpunkt die Frage nach der "Wahrheit des Seins" stand ­: mit der Phase, die nach dem "Ort und der Ortschaft des Seins selbst", d. h. der Topologie des "Seyns" fragt, die schon langhin im Werk Heideggers "anklingt".

Auch jetzt geht es um das Hervortreten von Seiendem und Seiendheit in die "Unverborgenheit", was nur dadurch möglich wurde, daß andere Gestaltungen und Seinsweisen notwendig "verborgen" blieben ­ nur daß Heidegger jetzt aus dem "Seyn" selbst (für das im Altchinesischen bekanntlich das Wort "Tao" steht) und auf dieses Seyn zu in abwartender Haltung (was ihm gegen seinen Willen nicht immer glückte) zu hören und zu sprechen versuchte: Wahrheit als Unverborgenheit, das ist genauer: das Entbergen im Sichverbergen, das ist das Ereignis auch als Entzug, will sagen: Das Enteignis, so genau wie nur möglich zu denken, das ist zu erfragen.

Da Heidegger ­ und mit ihm die Vfn. ­ in dieser dritten Phase seines Denkweges bis an die äußerste Grenze des Sagbaren ging und häufig das Unsagbare mit äußerster, kaum glaublichenrAnstrengung umkreiste, ist auch der Nachvollzug dieses Weges für jeden ein ganz besonderes, wenn auch lohnendes Exerzitium. Theologisch ist damit nicht viel anzufangen, ganz im Gegenteil: Ich habe eher den Eindruck, daß durch das "Ereignis" Heidegger für die Theologie heute nicht mehr viel zu tun übrig bleibt. Gewiß: Vom Seyn zum Heiligen, vom Heiligen zur Gottheit, von der Gottheit zu Gott. Ob dies aber noch den jüdisch-christlichen Gott meint, möchte ich bezweifeln. Für den Menschen könne, so meint Heidegger, das Göttliche immer noch im Fest aufscheinen. Dieses Aufscheinen bedürfe aber erst wieder der Vertrautheit mit dem Heiligen, ­ d. h. es bedürfte jetzt erst wieder einer langen Vorbereitung, in meiner Terminologie: eines langen Atems, um vielleicht doch wieder einmal von Ihm reden zu können, aber natürlich dann ganz anders reden zu dürfen.

Als Rez. darf ich vielleicht noch zwei Hinweise geben: 1: Thematische Beschränkung, wie sie Heidegger von uns allen immer wieder verlangt hat, wäre besser als der Versuch, alle Themen, die Heidegger zur Sprache gebracht hat, gleichzeitig zu bearbeiten (so gehen immens wichtige Abschnitte wie die zur Leiblichkeit in dieser Arbeit schnell verloren). 2: Das Spätwerk Heideggers ist stets als tastender, die Sache selbst äußerst gefährdender Versuch des Unterwegsseins zu begreifen, bei dem es (falls überhaupt je) noch lange keine Sicherheiten geben wird. Andernfalls befürchte ich, daß die Enkelgeneration Heideggers damit beginnt, mehr über das Seyn zu wissen, als das Seyn selbst, so daß ein Wortgeklapper anfangen könnte, vor dem uns Gott, wenn ich Ihn hier zum Ende doch einmal nennen darf, bewahren möchte. Wir hätten sonst ­ und nicht zuletzt Heidegger ­ einen geradezu teuflischen Dienst erwiesen.