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Ausgabe:

Juli/August/2006

Spalte:

909–912

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Klein, Andreas

Titel/Untertitel:

»Die Wahrheit ist irgendwo da drinnen Š?« Zur theologischen Relevanz (radikal-)konstruktivistischer Ansätze unter besonderer Berücksichtigung neurobiologischer Fragestellungen.

Verlag:

Neukirchen Vluyn: Neukirchener Verlag 2003. XIV, 565 S. 8°. Kart. Euro 39,90. ISBN 3-7887-2016-6.

Rezensent:

Hans-Dieter Mutschler

Der Ansatz des Radikalen Konstruktivismus ist der zur Abbildtheorie der Erkenntnis inverse: verschwindet dem Abbildtheoretiker das Subjekt hinter dem Objekt, so dem Radikalen Konstruktivismus das Objekt hinter der konstruktiven, interpretierenden Tätigkeit des Subjektes. Im einen Fall ist das Objekt tätig, das Subjekt passiv, im anderen gerade umgekehrt. Man hat Gründe zur Vermutung, dass beide Extremhaltungen den Erkenntnisprozess nicht richtig beschreiben. Kant jedenfalls deutete den Erkenntnisprozess als ein Wechselspiel zwischen Spontaneität und Rezeptivität.

Der Radikale Konstruktivismus sieht sich in bester Übereinstimmung mit den avanciertesten Naturwissenschaften, wie Chaos- und Selbstorganisationstheorie, Autopoiesislehre oder Hirnphysiologie. Zudem beansprucht der Radikale Konstruktivismus, die traditionelle Philosophie zu ersetzen, ein Anspruch, der von den meisten Philosophen nicht ernst genommen wird. Grund war, dass die Auseinandersetzung des Radikalen Konstruktivismus mit der Philosophie bisher sporadisch blieb.

Diesem Umstand möchte Andreas Klein mit seiner Arbeit abhelfen, indem er zugleich den Radikalen Konstruktivismus für die Theologie fruchtbar machen möchte, allerdings so, dass er bisherige diesbezügliche und zaghafte Versuche als unzureichend kritisiert oder theologische Ansätze, die in eine solche Richtung gehen, wie den von Dalferth, als halbherzig zurückweist.

In Bezug auf Kants Phänomenalismus versteht sich der Radikale Konstruktivismus als Radikalisierung dieser Position: Zwar nimmt man mit Kant eine hinter den Phänomenen liegende »eigentliche« und unerkennbare »Realität« an, die der uns zugänglichen »Wirklichkeit« zu Grunde liege, aber die Spitze der kognitiven und praktischen Pyramide bildet jetzt nicht mehr eine auf das Allgemeine gehende Vernunft, sondern die kontingente Praxis der Weltbewältigung. Fragen der Ontologie werden dadurch ebenso obsolet wie Fragen nach Wahrheit. »Wahrheit« wird ersetzt durch »Viabilität«, d. h. durch die Fähigkeit, sich technisch-praktisch zu bewähren (94).

Dieser Ansatz wurde von Autoren wie Maturana, Varela, von Foerster, von Glasersfeld, Schmidt und vielen anderen ins Leben gerufen und von Hirnphysiologen wie Roth übernommen. Die Einzelheiten in der Entwicklung des Radikalen Konstruktivismus mögen hier zu Gunsten der Grundfrage zurückgestellt werden: Ist der Radikale Konstruktivismus als philosophisch-theologisches Konzept tauglich, vor allem in der Gestalt, die ihm K. gibt? K. weist die Differenz zwischen »Wirklichkeit« und »Realität« zurück (152) mit den Argumenten, die man schon gegen Kants »Ding-an-sich« vorgebracht hat.

Ich betrachte K.s Beitrag als völlig misslungen, weil er nämlich die entscheidenden Fragen an den Radikalen Konstruktivismus überhaupt nicht stellt und weil er in seiner Auseinandersetzung mit der Philosophie eklektisch bleibt, indem er die wirklich ðhartenÐ Gegner und ihre Argumente ausspart.

Zunächst einmal fällt auf, dass K. im Wesentlichen nur die Philosophen behandelt, die sowieso in die Richtung des Radikalen Konstruktivismus gehen, also Interpretationsphilosophen wie Lenk und Abel, Putnam als internen Realisten, Janich als Konstruktivisten der Erlanger Schule, Goodman, Rorty usw. Höchst marginal (oft nur in Fußnoten) werden Realisten aus der Tradition der Analytischen Wissenschaftstheorie behandelt. Z. B. zitiert K. von Stegmüller gerade mal einen peripheren Artikel und ignoriert dessen riesiges Gesamtwerk. Dasselbe gilt für (Ernest) Nagel. Autoren wie Hempel fehlen ganz (vgl. die völlig unzureichende Diskussion des Kausalbegriffs, 209 ff.). Quine wird permanent nach denselben Stellen aus dem Spätwerk zitiert, wo er pragmatische Relativierungen zulässt, während die Auseinandersetzung mit seiner Wahrheitsauffassung ganz ausfällt und die Auseinandersetzung mit seiner Ontologie nur eine Fußnote wert ist (452). Stattdessen enthält dieses Buch Berufungen auf populärwissenschaftliche Synthesen, die unter akademischem Niveau sind, wie gewisse Bücher von Hawking, Ditfurt, Fritzsch und Jantsch.

Wie selektiv K. vorgeht, mag an seinem Bezug auf von Kutschera deutlich werden. K. ignoriert, dass von Kutschera einer der dezidiertesten Antikonstruktivisten ist, die es heute gibt. Er übergeht souverän Kutscheras Arbeiten zur formalen Logik, zur Wissenschaftstheorie und zur Metaphysik und zitiert immer nur bestimmte Stellen aus seinem Werk über den Glauben, die konstruktivistisch klingen.

Bei dieser Oberflächlichkeit darf es nicht wundernehmen, dass die entscheidenden Fragen nicht gestellt werden. So beruht z. B. die formale Logik auf dem Wahrheitsbegriff, durch den sie im Sinn einer Referenzsemantik definiert ist. Wenn man mit K. den Wahrheitsbegriff ganz abschafft oder durch einen mit zeitlichem Index ersetzt (109), hat man das Widerspruchsprinzip abgeschafft. Wie man dann überhaupt noch wissenschaftlich denken sollte, bleibt unklar.

Ebenso desolat sind die Folgen des Radikalen Konstruktivismus für die empirische Wissenschaft. K. hält den Begriff der »Viabilität« zwar nicht für hinreichend (107), will aber unter keinen Umständen den alten Begriff der »Wahrheit« akzeptieren. Von hierher lässt sich der Fortschritt der Wissenschaft, insofern sie keine technisch-praktischen Folgen hat, nicht plausibel machen. Als Einstein die Spezielle Relativitätstheorie entdeckte, hatte sie experimentelle Evidenzen gegen sich und war technologisch in keiner Weise anwendbar. Bei der Allgemeinen Relativitätstheorie war es noch schlimmer. Warum haben die Physiker Einsteins Entdeckungen als wahr akzeptiert, obwohl sie in keiner Weise praktisch nützlich waren? Solche Fälle traten in der Geschichte der Wissenschaft ständig auf, etwa auch bei Kepler, Galilei und vielen anderen.

K. ignoriert diese äußerst nahe liegenden Einwände, wie er auch das Metaphysikproblem offenbar nicht durchschaut. Setzt man mit Kant eine Differenz zwischen der phänomenalen »Wirklichkeit« und einer unerkennbaren »Realität«, dann handelt man sich die genannte Aporie ein. Schafft man hingegen mit K. die »Realität« als eigenständige Größe ab, dann verwandelt sich die ganze Welt in einen Sinnzusammenhang wie bei Hegel. Denn wenn Interpretation der Urakt des Menschen ist als eine sinngetränkte Theorie-Praxis-Verschränkung, wie der Radikale Konstruktivismus lehrt (132), dann werden bloße Sinnunterstellungen zu konstitutiven Wesensgründen der Erfahrung. Auch dieses metaphysische Problem behandelt K. an keiner Stelle.

Wie die Kritik an Dalferth aussehen wird, ist nun vorhersehbar (409 ff.): Dalferth betont den interpretativen Charakter unseres Erkennens und Handelns, besteht aber gleichwohl (und zu Recht) auf der Dignität von Wahrheits- und ontologischen Fragen, im Sinn eines »Wirklichkeits- und Wahrheitspostulats« (450). Wir brauchen ein Übergreifend-Allgemeines wenigstens als regulative Idee. Dass der Radikale Konstruktivismus all dies nicht anerkennt, ist klar. Fraglich bleibt, wo man hingerät, wenn man Wahrheit, Fragen nach dem Sein oder die Verallgemeinerbarkeit theoretischer und normativer Prinzipien eliminiert.

Man muss es in aller Härte sagen: Ein Christentum ohne Wahrheits- und normative Ansprüche wird von Ideologien ununterscheidbar. Was ist z. B., konstruktivistisch gesehen, die Differenz zwischen dem Neuen Testament und Hitlers »Mein Kampf«? Wenn es nur interne normative und kognitive Standpunkte gibt, wenn die Realität nicht mehr als Unterscheidungskriterium fungiert, was zeichnet dann Jesus vor Hitler aus? Mehr als das: Man müsste, konstruktivistisch gesehen, Hitler den Zuschlag geben. Seine Zielvorstellung einer Ausrottung der Juden ließ sich auf Grund seiner Theorie weit effizienter bewerkstelligen als die Herstellung des Gottesreiches auf Grund der Bibel. Letzteres führt wiederum zu einem entscheidenden Punkt, der in diesem Buch ebenfalls ausfällt: Wenn Praxis auf ðEffizienzÐ reduziert wird (76/7), welche Chancen haben dann nichtutilitaristische Ethiken wie etwa die christliche Liebesethik?

Die entscheidenden logischen, empirischen, wissenschaftstheoretischen, metaphysischen und normativen Fragen nicht gestellt zu haben, verleiht dieser Arbeit einen Schein von Plausibilität. Würde man sie ernstlich stellen, bliebe vom Radikalen Konstruktivismus wohl nicht viel übrig.