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Ausgabe:

Juli/August/2006

Spalte:

903 f

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Tanner, Klaus [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gotteshilfe ­Selbsthilfe ­ Staatshilfe ­ Bruderhilfe. Beiträge zum sozialen Protestantismus im 19. Jahrhundert.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2000. 205 S. gr.8° = Herbergen der Christenheit, Sonderband 4. Kart. Euro 13,10. ISBN 3-374-01826-2.

Rezensent:

Norbert Friedrich

Manche gesellschaftlichen Themen erscheinen nach nur wenigen Jahren in einem neuen, anderen Licht; die Bewertung ­ etwa von Leistungen und Fehlentwicklungen ­ kann sich schnell ändern. Dies trifft sicher auf die deutsche Sozialstaatsentwicklung zu, die seit wenigen Jahren gerade in der Öffentlichkeit unter anderem, den Sozialstaat der Gegenwart kritisch betrachtenden Blick diskutiert und beurteilt wird. Neben der überall wahrnehmbaren Globalisierung und ihren Auswirkungen auf die deutsche Wirtschafts- und Sozialstaatsentwicklung kommen auch nationale und europäische Fragenkomplexe verstärkt in das Bewusstsein, besonders die Folgen des demographischen Wandels oder auch die Fragen nach Alternativen zur gegenwärtigen Wirtschaftsordnung.

Vor dem Hintergrund dieser hier nur stichwortartig genannten Themen greift man mit besonderem Interesse zu dem anzuzeigenden Band aus dem Jahr 2000. Entstanden ist die Aufsatzsammlung aus einer Tagung des Teilbereiches »Sozialstaatliche Leitideen und Institutionalisierungskonzepte des deutschen Protestantismus des 19. Jahrhunderts« innerhalb des DFG-Sonderforschungsbereiches 537 »Institutionalität und Geschichtlichkeit«, der seit 1997 an der Technischen Universität Dresden besteht. Auch das historisch-systematische Forschungsprogramm dieses Projektes, welches dezidiert einen »Beitrag zur Analyse der protestantischen Prägekräfte der deutschen politischen Kultur des 19. Jahrhunderts« (so in der Projektbeschreibung) leisten möchte, nimmt als einen wichtigen Bezugspunkt Gegenwart und Zukunft des deutschen Sozialstaates.

Der Band beinhaltet insgesamt zehn Beiträge, dazu kommt noch eine programmatische Einleitung des Herausgebers mit einer Zusammenfassung der Beiträge und einer Beschreibung des zu Grunde liegenden Forschungsprogramms des Dresdner Projektes. Der kleinere Teil der Beiträge resultiert aus Forschungen innerhalb des Dresdner Projektes (dies konnte schon auf Grund des damals frühen Stadiums kaum möglich sein, mittlerweile liegt hier aber eine beachtliche Anzahl von Studien vor), die Mehrzahl gibt Forschungsergebnisse wieder, die im Rahmen von Promotionen und Habilitationen entstanden sind und die­ häufig mit verändertem Blickwinkel ­ auch bereits anderweitig veröffentlicht sind.

Was erwartet den Leser? In einem in die Zeit einführenden Beitrag beschreibt Gangolf Hübinger (Frankfurt/Oder) mit einem ideengeschichtlichen Zugang »Leitbilder des Sozialprotestantismus um 1900« (13­23). Hübinger stärkt, wie auch schon in seinem Buch »Kulturprotestantismus und Politik« (1994) gerade den offenen, auf eine »Individualkultur« (23) bezogenen Protestantismus gegenüber den homogenisierenden Gemeinschaftsvorstellungen der orthodoxen Protestanten. Damit begründet Hübinger seine in der Forschung umstrittene Sicht auf den Protestantismus des Kaiserreiches, der von tiefen, unüberwindbaren Gräben gekennzeichnet sei. Tatsächlich lassen sich die weiteren Beiträge des Bandes vor dem Hintergrund dieser These als eine Explikation des Themas im Sinne eines weit differenzierten, nur schwer unter einen gemeinsamen Begriff zu bringenden Phänomens beschreiben. So erklärt Traugott Jähnichen (Bochum) die evangelischen Einflüsse auf die Entwicklung des Arbeitsrechtes (25­40), wobei gerade die Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Richtungen des sozialen Protestantismus hervortreten. Gleich zwei Beiträge beschäftigen sich mit der Idee der Genossenschaften. Michael Klein (Hamm/ Sieg) beschreibt das Werk des Protestanten Friedrich Wilhelm Raiffeisen (41­52), Ulrich Rosenhagen wendet sich den Genossenschaftstheoretikern Viktor Aimé Huber und Otto von Gierke zu (135­153), die eher im liberalen Protestantismus anzusiedeln sind und bei denen ebenfalls der »religiöse Sinngehalt« (153) konstitutiv war.

Zwei Beiträge von Sebastian Kranich (Dresden), einem Mitarbeiter des SFB, beschäftigen sich in einem regionalen und personalen Zugang mit Sachsen. Ausführlich wird die »Sächsische Evangelisch-soziale Vereinigung« als ein Teil des Evangelisch-sozialen Kongresses beschrieben (53­70), dieser wollte ­ so die eigene Zielsetzung ­ kein »bloßer Debatierclub« sein, sondern vielmehr ­ indem man die theoretische Arbeit, die den Evangelisch-sozialen Kongress auszeichnete, und praktische Sozialarbeit, wie es viele Sozialkonservative forderten, verband ­ zugleich ein eigenständiges Profil entwickeln. Ein weiterer Beitrag beschreibt Leben und Werk des bisher in der Forschung nur am Rande behandelten Nationalökonomen und liberalen Protestanten Viktor Böhmert (71­88), der »eine äußerst anregende und interessante Gestalt des sozialen Protestantismus« (88) war, so Kranich. Rudi Neuberth (Zürich) untersucht »sozialphilosophische Gedanken und Sozialstaatskonzeptionen protestantischer Theologen des 19.Jahrhunderts« (89­114). Er bemüht sich um eine Differenzierung allzu einfacher Ableitungsthesen, entdeckt aber gleichwohl einen ideengeschichtlichen Ideentransfer über die protestantischen Milieus in die politischen Entscheidungen hinein. In einer gewissen Parallelität analysiert der Volkswirtschaftler Birger Priddat (Witten) die ethischen Aussagen der sog. ðhistorischen SchuleÐ der Nationalökonomie (115­133).

Mit dem Greifswalder Theologen Martin von Nathusius und dessen Verbindung zum sozialkonservativen Protestantismus beschäftigt sich Thomas Schlag (155­172). Auch er thematisiert das Problem, wie der Einfluss des Sozialprotestantismus auf die staatliche Sozialpolitik zu bewerten sei, und plädiert dabei für die Interpretation der »Begleitung«, womit er einen Mittelweg von Beteiligung und »passiv-quietistischer Beobachtung« (168) einnehmen will. Im letzten Beitrag des Bandes beschreibt Renate Zitt (Darmstadt) die unterschiedlichen sozialpolitischen Auffassungen von Theodor Lohmann und Otto von Bismarck (173­194), die gleichwohl Interpretationen des Grundmodells »praktisches Christentum in gesetzlicher Betätigung« (189) sind, mit den beiden Polen Selbsthilfe und Staatsfürsorge. Ein thematisches Literaturverzeichnis und ein Personenregister schließen den Band ab (195­204).

Die Beiträge zeigen eine erstaunliche Vielfalt des sozialen Protestantismus. Auch wenn viele Beiträge nur kleine Gruppen bzw. biographische Einzelstudien darstellen, wird doch deutlich, wie stark das heterogene protestantische Milieu (mit der Milieutheorie arbeiten viele Beiträge) sich den sozialen Herausforderungen der Zeit stellte. Dabei gab es grundlegende Unterschiede in der theologischen und politischen Beurteilung der Lage, aber ebenso viele Gemeinsamkeiten in der Zielsetzung und der Lagebeurteilung. Die lange Tradition in der Debatte um Lösungsansätze für die soziale Frage macht aber auch deutlich, dass man sich darum bemühte, nicht primär ökonomische Antworten zu geben, sondern sozialethisch verantwortete, die Menschen in den Mittelpunkt stellende Antworten. Es wird sicher auch eine Herausforderung für den Protestantismus der Gegenwart sein, sich den heutigen, von der Globalisierung geprägten sozialen Fragen erneut zu stellen.