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Ausgabe:

Juli/August/2006

Spalte:

899–901

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Appold, Kenneth G.

Titel/Untertitel:

Orthodoxie als Konsensbildung. Das theologische Disputationswesen an der Universität Wittenberg zwischen 1570 und 1710.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2004. XII, 359 S. gr.8° = Beiträge zur historischen Theologie, 127. Lw. Euro 84,00. ISBN 3-16-148215-8.

Rezensent:

Ernst Koch

Das Werk, dessen Erstfassung als Habilitationsschrift an der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg angenommen wurde, wendet sich einem Thema zu, das in der Erforschung der Theologie- und Universitätsgeschichte Wittenbergs bisher stiefmütterlich behandelt wurde. Die Gründe dafür sind, wenn schon nicht nachweisbar, so doch erschließbar: Die akademische Theologie der frühen Neuzeit, speziell der so genannten lutherischen Orthodoxie, steht unter keinem verlockenden Vorzeichen, mag auch das Bild der Epoche insgesamt in Wandlung begriffen sein.

A. geht das Thema in drei Ansätzen an, um es schrittweise zu konkretisieren und zu spezialisieren: Akademische Disputation und theologische Konsensbildung (I), theologische Disputationsthemen im Allgemeinen (II) und die Wittenberger ekklesiologischen Disputationen (III). Die beiden erstgenannten Teile der Arbeit vermitteln eine Fülle von Beobachtungen und Einsichten zu den diachronen Verläufen der Arbeit der Wittenberger theologischen Fakultät: zum Neubeginn mit Jakob Andreae seit 1577, den institutionellen Bedingungen und der Gestaltung und Durchführung von Disputationen bis hin zum Verhältnis von Redeakt und Druck, den zu beachtenden Regeln und den Disputationsgattungen, zu Themenschwerpunkten, Praxisbezügen und wirtschaftlichen Faktoren (Disputationen werden zum »Wirtschaftsfaktor«, 50­52), zum Wechsel der Generationen, Motivationsschüben und Innovationen, zur Frage der Individualität theologischer Prägungen, zu materialer Normierung durch Schriftprinzip und Bekenntnisschriften. Dem Leser des Buches wird im Laufe der Lektüre das Bild einer monolithischen Einheit der Wittenberger Orthodoxie zerfallen zu Gunsten von Einsichten in die Bandbreite möglicher und eingenommener, aber auch umstrittener Positionen. Nachdenklich ­ auch im Blick auf ein zu eng gefasstes Bild von Konfessionalisierung ­ macht der Hinweis auf bleibende Spannungen zwischen Universitätstheologie und kursächsischer Obrigkeit. Zahlreiche Korrekturen zur Universitätsgeschichte werden die einschlägige Forschung bereichern. Nicht ganz neu, aber auch durch die Untersuchungen in Teil III unterbaut, ist die Beobachtung, dass Confessio Augustana und Konkordienformel nicht begrenzender Rahmen oder »Zwangsjacke« (309), sondern Ausgangspunkt von theologischer Entfaltung und Entwicklung sind ­ das letzte Jahrzehnt des 16. Jh.s ist »keine Zeit des Festlegens, sondern des Auslegens« (94). Wichtig sind die Hinweise auf die orientalistische Kompetenz der Wittenberger Theologen, die sich auf die Bibelexegese ausgewirkt hat. Der Aspekt der Exegetik in seinem Gewicht innerhalb der theologischen Arbeit ist in der Forschung oft ausgeblendet worden. Das alles bedeutet, dass in Teil III ungewohnte Einsichten durch A. zur Sprache kommen: Disputationen stellen ein Experimentierfeld dar, auf dem »Individualisten« (139 f.) in der Methodik »musikalischer Improvisation« (227) die Tragfähigkeit und Tragweite thematischer Erweiterungen ausloten.

Überhaupt sollte Teil III der Arbeit angesichts des nahe liegend starken Eindrucks der beiden ersten Teile des Buches bei der Lektüre nicht in den Hintergrund treten bzw. unbeachtet bleiben. Er ist nicht nur die »Probe aufs Exempel«, sondern ein eigener theologischer Forschungsbeitrag. Er widmet sich mit der Ekklesiologie einem für das 17. Jh. bisher kaum eruierten theologiegeschichtlichen Thema. A. zeigt dies u. a. am Inhalt des Regensburger Religionsgesprächs von 1601 zwischen Lutheranern und Jesuiten auf und macht darauf aufmerksam, dass dessen eigentliches Thema nicht, wie bisher üblicherweise gemeint, das Schriftprinzip war, sondern die Frage nach der kirchlichen Autorität (229­231). Die Amtslehre Jakob Martinis, von A. ausführlich in ihren systematischen Aspekten dargestellt, ist »der Forschung bisher unbekannt geblieben« (273). Ihre Brisanz liegt in der von Martini angestrebten energischen Begrenzung sowohl des römisch-katholischen Anspruchs auf die Macht der Kirche als auch der Einspruchsmöglichkeiten der Obrigkeiten in ihre Leitung (gubernatio). Dies wird bei Martini erreicht durch eine breite Entfaltung der der Kirche zustehenden Verwaltung (administratio externa). Für A. erscheint Martini »eher von der Skepsis Melanchthons gegenüber einem landesherrlichen Kirchenregiment als von den großzügigen Verflechtungskonzepten mancher lutherischer Juristen beflügelt zu sein« (279). Seine Ausführungen über das Diakonissenamt für Frauen bezeichnet A. als »eine der ersten lutherischen Amtslehren Š, die sich für ein eigenständiges kirchliches Amt für Frauen aussprechen« (277). Martinis Gegenpol an der Wittenberger Fakultät ­ A. spricht leicht überzeichnend von einem »Duell« ­ war Balthasar Meisner. A. hebt bei ihm die Entwicklung eines allgemeinen Religionsbegriffs als Oberbegriff hervor, der auch die Konfessionen umgreift und es ermöglicht, die Theologie missionstheologisch auszurichten. Einer der ekklesiologischen Akzente dieses umfassenden Religionsbegriffs ist, dass er »den Konfessionsstreit Š in ein Wetteifern um die Seele des Einzelnen« umwandelt (262).

Es ist nicht möglich, im Rahmen dieser Besprechung alle neuen und anregenden Aspekte zur Sprache zu bringen, die in A.s Buch vorgetragen und erwogen werden. Um nur noch auf einige wenige hinzuweisen, seien die Bedeutung des Artikels 7 der Confessio Augustana für die ekklesiologischen Diskussionen, die schöpfungstheologische Begründung der Ekklesiologie durch Wolfgang Franz und die Rolle von Georg Mylius und seines Schülers Georg Volckmar genannt. Das letztgenannte Teilthema würdigt einen oft übersehenen Wittenberger Theologen an der Wende zum 17. Jh.

Das Buch ist in flüssiger und doch präziser Sprache geschrieben. Das verdient ausdrückliche Erwähnung im Blick auf die außerdeutsche Herkunft von A. Eingeschaltete Zusammenfassungen erleichtern die Orientierung in der gehaltvollen Darstellung und regen zu weiteren Perspektiven an. Als Quellenedition ist die Darbietung von Balthasar Meisners Disputationsregeln hervorzuheben (85­87). Der Arbeit liegt ein immenses Quellenstudium von etwa 3000 Disputationsdrucken zu Grunde, zum großen Teil in der Bibliothek des Predigerseminars Wittenberg vorhanden. Ein großer Teil von ihnen ist in der reichlich 29 Seiten umfassenden Primärbibliographie dokumentiert.

Alles in allem: Die Arbeit von A. kann als einer der wichtigsten Beiträge sowohl zur Erforschung der Wittenberger Universitätstheologie als auch ­ gerade in ihren kritischen Aspekten ­ zur Konfessionalisierungsdebatte gelten. Sie verdient hohen Respekt und aufmerksame Leserinnen und Leser.