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Ausgabe:

Juli/August/2006

Spalte:

897–899

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Mau, Rudolf

Titel/Untertitel:

Der Protestantismus im Osten Deutschlands (1945­1990).

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2005. 243 S. gr.8° = Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen, IV/3. Geb. Euro 28,00. ISBN 3-374-02319-3.

Rezensent:

Martin Greschat

Der bekannte langjährige Dozent für Kirchengeschichte am Sprachenkonvikt in Ost-Berlin und zuletzt Professor an der Humboldt-Universität schildert in diesem Band in chronologischer Folge knapp und gedrängt, entsprechend den Vorgaben der Reihe, die Geschichte der evangelischen Kirche in der SBZ/DDR. Als die Leitlinien seiner Darstellung nennt er einerseits die Abwehr einer »selektiven Wahrnehmung« der Vorgänge, andererseits geht es ihm um die Hervorhebung der theologischen und geistlichen Bewältigung jener Ereignisse (6).

Das erste der insgesamt sieben Kapitel umreißt die Nachkriegszeit bis zum Vorabend der Proklamation des Aufbaus des Sozialismus im Juli 1952 (21­44). Während die Kirche ­ wie im Westen ­ daran ging, die Volkskirche zu reorganisieren und eine christliche Gesellschaftsordnung zu etablieren, verfolgte die SED genau entgegengesetzte Ziele. Da sich die Sowjetunion wegen ihres gesamtdeutschen politischen Interesses zunächst weitgehend zurückhielt, war die Situation für viele Menschen ausgesprochen undurchsichtig. Das änderte sich grundsätzlich in den folgenden Jahren bis zum Mauerbau. Von dieser »totalitären Kulturrevolution« handelt das zweite Kapitel (45­78). Vor allem die evangelische Jugend, aber auch die diakonischen Werke wurden nun diskriminiert, unterdrückt und verfolgt. Nach einer kurzen Unterbrechung auf Grund des Aufstands am 17. Juni 1953 und der Neuorientierung der staatlichen Kirchenpolitik (1954/55) ging die SED mit der Durchsetzung der Jugendweihe, der Forderung einer Loyalitätserklärung sowie der schrittweisen Aufspaltung der gesamtdeutschen EKD erfolgreich zum Angriff über. Die Kirche antwortete mit intensiven theologischen und geistlichen Überlegungen über die Möglichkeit einer christlichen Existenz im atheistischen Staat, über dessen Legitimität sowie die Grenzen des Gehorsams. Vom Schock, den die Berliner Mauer auslöste, und den anschließenden Orientierungsversuchen berichtet das dritte Kapitel (79­101). Es folgt die Darstellung der Trennung von der EKD und der Gründung des Bundes Evangelischer Kirchen in der DDR (BEK), die Skizzierung seines Selbstverständnisses als »Zeugnis- und Dienstgemeinschaft« gerade »im Sozialismus«, die Schilderung des anhaltenden Entsetzens über die Selbstverbrennung von Pfarrer Brüsewitz, schließlich die Beschreibung des danach viel zitierten Gesprächs vom 7. März 1978 zwischen den Vertretern des Staates mit Honecker und der kirchlichen Leitung, angeführt von Schönherr. Das fünfte Kapitel informiert über »Friedenszeugnis und wachsende Öffentlichkeit« in den Jahren 1978 bis 1985 (137­169). Beschäftigten sich einerseits mehr und mehr kirchliche Gruppen mit den Themen Frieden und Umwelt, mühten sich andererseits kirchenleitende Persönlichkeiten um eine Balance zwischen den repressiven Forderungen des Regimes hier und den dagegen aufbegehrenden Aktionen vor allem junger Menschen da. Sogar vom Gebot eines »Grundvertrauens« zum Staat sprach nun ein Bischof (165)! Diese Spannungen wuchsen seit 1987 an. Ausführlich referiert das sechste Kapitel diese Vorgänge (170­210). Die Kirchenleitungen sahen sich, zunächst gegen ihren Willen, in die Position von Mittlern zwischen Staat und Gesellschaft gedrängt. In dieser ungewohnten Rolle wurden sie von den Gruppen, die jetzt langsam begannen, das schützende Dach der Kirche zu verlassen, oft als Verbündete des Regimes attackiert. Dessen Vertreter bemühten sich umgekehrt, mit der Kirche zur Aufrechterhaltung der Ruhe und alten Ordnung zu kooperieren. Zum ersten Mal ist in diesem Kapitel auch ausführlich von Gegensätzen zwischen Kirchenleitungen und Gemeinden die Rede, ferner von harten Auseinandersetzungen unter einigen Kirchenführern (184). Ein kurzes Kapitel über die Probleme der Kirche mit den Einwirkungen der Stasi sowie schließlich über den erneuten Anschluss der evangelischen Kirchen im Osten an die EKD beschließt den Band (211­222).

M. legt eine ausgesprochen sorgfältige und gründliche Darstellung jener Jahre vor. Das Buch ist faktengesättigt und trägt stellenweise, bis in den Stil hinein, kompendienhaften Charakter. Dabei dominiert der Blickwinkel der kirchlichen Leitungsgremien. Was sie dachten und wie sie gegenüber dem Regime handelten, steht im Mittelpunkt. Daneben ist von ihren innerkirchlichen Zielsetzungen die Rede: nicht jedoch, was sie hier erreichten oder bewegten, etwa im Blick auf die viel zitierte kleine Schar aktiver Christen, die missionarische Gemeinde, die »Zeugnis- und Dienstgemeinschaft«. Zu Recht verweist M. auf den andauernden Druck, den das Regime auf die Kirche ausübte. Auch in relativ ruhigen Zeiten setzte es die Pressionen im Bildungs- und Erziehungsbereich unvermindert fort. Sicherlich schloss diese Realität die Verantwortlichen in der Kirche zusammen. Aber es waren dann doch nicht allein Bischof Mitzenheim in Thüringen und das Professorenehepaar Müller in der Berliner Theologischen Sektion, die dezidiert eigene Wege gingen. Das um 1957 einsetzende Suchen nach Möglichkeiten zwischen weitreichender Anpassung einerseits und der entschiedenen Ablehnung der DDR andererseits kommt in diesem Band immer nur sehr kurz in den Blick, meist lediglich in Andeutungen, deren Bedeutung wohl nur erfasst, wer mit der Geschichte der evangelischen Kirche in der DDR vertraut ist. Welcher Leser begreift z. B., dass Krummachers Weigerung, in den Auseinandersetzungen um die geforderte Loyalitätserklärung (1958) »auf einer Klärung der Rechtslage zu bestehen« (66), in der Einsicht gründete, dass man auf dieser Ebene als Kirche keine Chance habe. Die von beiden Bischöfen gewünschte Antwort, wie denn Christen in der DDR leben könnten, musste deshalb nach der Überzeugung Krummachers in einer anderen Weise gelöst werden. Die Zusammenstellung vieler Fakten weckt Fragen. Was wollte Dibelius eigentlich mit seiner Obrigkeitsschrift (71 f.)? Wieso scheiterte der Versuch des Zusammenschlusses zu einer evangelischen Kirche in der DDR zweimal an den Synodalen von Berlin-Brandenburg (139)? Weshalb setzte Bischof Fränkel seine herbe Kritik an den Zuständen in der DDR nicht fort? Standen die übrigen Kirchenführer wirklich hinter ihm (113 f.)? Die Liste solcher Anfragen ließe sich leicht verlängern.

M. neigt im Blick auf die kirchenleitenden Persönlichkeiten zu Harmonisierungen. Hand in Hand damit geht die Betonung des theologischen und rein kirchlichen Charakters vieler Entscheidungen. Diese Feststellung gilt insbesondere im Blick auf die Gründung des BEK. Man mag darüber streiten, welches Gewicht die theologischen und seelsorgerlichen Gesichtspunkte in diesem Kontext gehabt haben. Kennzeichnend für die vorliegende Darstellung ist jedoch, dass eine Einsicht, wie sie etwa Bischof Demke rückblickend äußerte, hier ohne Resonanz bleibt: »Wir haben uns eben auch theologisch überredet, etwas akzeptabel zu finden, was wir eigentlich nicht bejaht haben.« (H. Findeis/D. Pollack, Hrsg., Selbstbewahrung oder Selbstverlust, Berlin 1999, 614)

Die Beschreibung der Vorgänge wird umso ausführlicher, je mehr sich M. der Gegenwart nähert. M. müht sich, insgesamt erfolgreich, den schwierigen Spagat der Kirchenleitungen zwischen den staatlichen Forderungen, den sich radikalisierenden Gruppen und nicht zuletzt den ihnen gegenüber missvergnügten Gemeindekernen abgewogen und gerecht zu schildern. Diese behutsame Form der Betrachtung macht die Eigenart, die Stärke, aber bisweilen auch die Grenzen dieser Darstellung aus.