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Ausgabe:

Juli/August/2006

Spalte:

890–892

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Greschat, Martin

Titel/Untertitel:

Protestantismus in Europa. Geschichte ­ Gegenwart ­ Zukunft.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005. 175 S. 8°. Geb. Euro 29,90. ISBN 3-534-18429-7.

Rezensent:

Hartmut Lehmann

In den Diskussionen über den Gottesbezug in einer künftigen europäischen Verfassung war in den vergangenen Jahren viel vom christlichen Europa die Rede, und zwar so, als ob das katholische Europa die gesamten christlichen Traditionen in Europa verkörpern würde. Deshalb ist es sehr zu begrüßen, dass Martin Greschat in seinem neuen Buch die Geschichte des Protestantismus in Europa darstellt und sich auch nicht scheut, über die Gegenwart und die Zukunft des Protestantismus in Europa zu reden. Gewiss, auch G. weiß, dass zu Beginn des 21. Jh.s nur noch etwa ein Sechstel aller Europäer sich als Protestanten versteht. Das sind etwa 83 Millionen im Gegensatz zu etwa 240 Millionen Katholiken. Und von diesen 83 Millionen dürften inzwischen viele nur noch nominelle Kirchenmitglieder sein. Zahlen sind jedoch nicht entscheidend. Wie G. zeigt, war die Geschichte des Protestantismus in Europa reich und vielfältig und bis ins 20. Jh. von großer politischer, gesellschaftlicher und kultureller Bedeutung.

Für eine Geschichte des Protestantismus in Europa auf gerade 175 Seiten sind zwei Dinge eine unabdingbare Voraussetzung: umfassende und zugleich in die Tiefe gehende Kenntnisse sowie der Mut, Wichtiges von Unwichtigem beziehungsweise sehr Wichtiges von weniger Wichtigem zu unterscheiden. G. besitzt beides, ein stupendes Wissen und klare Vorstellungen. Seine Ausführungen beginnt er mit einer Überraschung: nicht mit der Luthergeschichte, so wie sich diese ab 1517 entfaltete, sondern mit Überlegungen zu »Voraussetzungen« und zu »Grundgegebenheiten Europas«. Dazu zählt er die Trennung von weltlicher und geistlicher Sphäre, die Entdeckung des Selbst und die Verbindung von Glaube und Vernunft, also die Überzeugung, es gelte auch die Glaubensaussagen zu erklären und zu begründen. Wie G. betont, waren diese auch für den Protestantismus konstitutiven Elemente in den Jahrhunderten vor der Reformation entstanden.

Die eigentliche Geschichte des Protestantismus in Europa gliedert G. auf souveräne Weise in fünf große Abschnitte. 1. Reformation. In diesem Kapitel erörtert er besonders die Arbeit an der Bibel und die Bemühungen in den Bereichen Bildung und Erziehung. 2. Aufklärung. G. setzt den Beginn der Aufklärung schon mit Descartes im frühen 17. Jh. an und verfolgt sie bis ins späte 18. Jh. 3. Erweckungen. Hier konzentriert er sich zunächst auf den Pietismus, führt seine Leser aber bis in die Mitte des 19. Jh.s. 4. Nationalismus. G. würdigt zunächst die durchaus positiven Elemente, schildert jedoch drastisch die negativen Folgen, so wie sie sich in der ersten Hälfte des 20. Jh.s in der Epoche der beiden Weltkriege zeigten. 5. Ökumene. G. setzt hier in der Mitte des 19. Jh.s ein, der Schwerpunkt seiner Ausführungen liegt aber in der Zwischenkriegszeit und in den Jahrzehnten nach 1945.

Ein besonderer Reiz dieser Konzeption liegt darin, dass jeweils zwei Kapitel sich teilweise chronologisch überschneiden, die Kapitel über Aufklärung und Erweckungen und die Kapitel über Nationalismus und Ökumene. Vielleicht hätten die Themen Aufklärung und Erweckungen sowie die Themen Nationalismus und Ökumene noch enger aufeinander bezogen werden können. Denn die Aufklärer lebten in der Welt der Erweckungsgesinnten, während die Erweckungsprediger sich mit der Aufklärung konfrontiert sahen. Ebenso sind wesentliche Impulse für die Ökumene aus der Ablehnung eines nationalistisch gesinnten Protestantismus hervorgegangen, während umgekehrt die Nationalisten gegen den Internationalismus polemisierten.

In dem begrenzten engen Rahmen konnte G. nicht alle Themen ansprechen. Jeder Leser mag anderes vermissen. Ich selbst hätte es begrüßt, wenn er folgende fünf Themen stärker berücksichtigt hätte. 1. Die engagierten Gruppen auf dem linken Flügel der Reformation. Weniger in der deutschen Kirchengeschichte als in der Geschichte vieler anderer Länder in Europa haben Mennoniten und Quäker eine bedeutende Rolle gespielt. 2. Das Regiment von Kriegsnot, Seuchen und Missernten im 17. Jh. Aus Angst vor einem plötzlichen Tod ohne Heilsgewissheit griffen damals viele Menschen zu erbaulicher Lektüre. Diese Werke, auch viele Kirchenlieder jener Zeit, gehören seither zu den Schätzen des Protestantismus in Europa. 3. Der Aufbruch des missionarischen Protestantismus im späten 18. und im frühen 19. Jh. Der Kampf für das Reich Gottes an der »Heidenfront« und an der »Heimatfront«, also Äußere Mission und Bibelverbreitung, gab damals dem Leben von zahllosen Protestanten Erfüllung und Sinn. 4. Die Verführung durch die Politischen Religionen in der ersten Hälfte des 20. Jh.s. Hätten mutige Theologen wie Karl Barth nicht widerstanden, wäre es dem Nationalsozialismus gelungen, den Protestantismus in Deutschland zu zerstören. 5. Die progressive Säkularisierung seit den 1960er Jahren im Zeichen von Affluenz und Freizeitkultur sowie als Antwort darauf die Propagierung einer teils evangelikalen, teils charismatischen Umformung der protestantischen Tradition.Es ist eine Stärke von G.s Buch, dass er das Thema des Protestantismus in Europa von seinen verschiedenen Facetten her beleuchtet. Zwei Abschnitte seines Buches sind, so meine ich, für alle, denen das Schicksal des Protestantismus am Herzen liegt, Pflichtlektüre: das Kapitel zur Ökumene, in dem er nachweist, welche moralische Kraft manche Protestanten gerade im Angesicht der Herausforderungen durch totalitäre Ideologien besaßen, und das abschließende Kapitel, in dem er auf die spezifischen Stärken des Protestantismus eingeht, die seiner Meinung nach den Protestantismus auch in Zukunft in Europa als unverzichtbar erscheinen lassen. Nach G. ist das die Überzeugung, jeder Christ sollte sich ein Urteil über die Aussagen der Bibel bilden. »Das impliziert«, so G., »das Fragen, Suchen und Zweifeln« (164), und dann die Verpflichtung auf eine personale Verantwortung, die in der Rechtfertigung aus dem Glauben eine feste Basis besitzt.

G.s Buch gibt fundierte Antworten auf drängende Fragen. Er hat ein wegweisendes Buch geschrieben, dem viele Leser zu wünschen sind.