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Ausgabe:

Juli/August/2006

Spalte:

886–888

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Medick, Hans, u. Peer Schmidt [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Luther zwischen den Kulturen. Zeitgenossenschaft ­ Weltwirkung.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004. 542 S. m. 7 Abb. gr.8°. Geb. Euro 64,00. ISBN 3-525-55449-4.

Rezensent:

Athina Lexutt

Wer und was den Weg auf eine Briefmarke geschafft hat, kann nicht unbedeutend sein. Er und es konnte und kann mit einem öffentlichen Interesse rechnen. Das Titelbild des ambitionierten, kulturwissenschaftlich orientierten Bandes »Luther zwischen den Kulturen« zeigt Martin Luther gleich auf fünf Briefmarken unterschiedlichster Herkunft und veranschaulicht auf diese Weise, welch weite Kreise Luther und die Wittenberger Reformation gezogen haben. Ob die Markensammlung komplett ist (ich vermute: nein), interessiert wohl eher die Philatelisten, während alle anderen die Gelegenheit wahrnehmen, den in Aussicht gestellten weiten Kreisen nun anhand zahlreicher Texte nachspüren zu können.

Der Band ist hervorgegangen aus einem internationalen Symposion, das 2001 in Erfurt anlässlich des Gedenkens der 500. Wiederkehr der Immatrikulation Luthers in Erfurt stattgefunden hat; weitere, zu den Vorträgen hinzugefügte Beiträge runden das Bild ab, das vor allem eins vermitteln will und dies auch tut: Luther und die Reformation haben ihre Grenze nicht an den Stadttoren Wittenbergs, nicht an den Grenzen des Heiligen Römischen Reiches oder Europas; ja, sie haben ihre Grenze nicht einmal innerhalb des Christentums. Die reformatorische Bewegung insgesamt, namentlich Martin Luther, bewegte und bewegt andere Länder, andere Religionen und Weltanschauungen ­ bis in die Moderne hinein. Luther wird auf diese Weise in zweierlei Hinsicht wahrgenommen: als Gestalt des 16. Jh.s und als weit über seine Zeit hinaus wirkende Persönlichkeit.Die gesamtkulturelle Wirkung Luthers ist ein Feld, das in der Lutherforschung merkwürdig blass geblieben ist. Von vereinzelten Untersuchungen abgesehen, ist noch kein ernsthafter Versuch unternommen worden, Luthers vielfältige Bezüge in die Welt (bzw. vice versa) umfassend darzustellen. Diese empfindliche Lücke schließt die vorliegende Sammlung mit Texten internationaler, namhafter Forscherinnen und Forscher. Fünf Themenkreise sollen dies leisten: Unter dem Titel »Luther im zeitgenössischen deutschen und europäischen Kontext« (33­115) werden ­ anders als zu befürchten ­ durchaus neue Akzente gesetzt und weniger die (vermeintlich) ausgetretenen Pfade der Lutherforschung erneut abgegangen. Luther als Monster in der Polemik der Kontroverstheologie, sein Selbstverständnis als Mann, sein Verständnis vom und seine Beziehung zum gemeinen Mann (und umgekehrt), das Unangetastetlassen der Reichskirche und Luther als »media persona« zu betrachten, lässt wichtige Akzente seines Wirkens im 16. Jh. hervortreten. Fast zu knapp erscheint der Abschnitt »Der amerikanische Luther« (117­211), der sich in vier Beiträgen auf neuere Perspektiven (etwa Luther und die Entstehung Lateinamerikas, die Lutheraner in Gesellschaft und Kultur Brasiliens) so sehr konzentriert, dass man gerade angesichts aktuellerer Entwicklungen in den USA gerne mehr zu den verschiedenen lutherischen Denominationen und dem amerikanischen Lutherbild erfahren hätte. Vor diesem Hintergrund wäre auch eine Analyse des Lutherfilms (2003) und seiner Finanzierung ein lohnendes Thema gewesen. Ausgesprochen spannend gestaltet sich der Teil, der sich mit dem »globalen Luther« auseinander setzt und nach dem »Luthertum in der Wechselwirkung mit anderen Religionen und Kulturen« fragt (213­451). Dieser insgesamt umfangreichste Abschnitt wagt stärker als die beiden vorhergehenden den Schritt von Luther zum Luthertum, namentlich dort, wo es um Lutherische Mission geht. Die Frage nach der Auseinandersetzung des Judentums mit Luther von der Aufklärung bis zur Schoa bietet wertvolle Einblicke in die deutsche Geistesgeschichte und lässt umso plastischer die Tragik der Tatsache hervortreten, dass manche Teile des Luthertums eine verhängnisvolle Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie gesucht und gefunden haben. Gerne würde man mehr erfahren zur Auseinandersetzung nach dem Holocaust und zur Bedeutung Luthers im jüdisch-christlichen Dialog. Ähnlich geht es dem Leser bei den beiden Beiträgen zum Verhältnis Luther und Islam. Der Erste setzt sich mit Luthers Bild des »Türken« und des Koran auseinander, der Zweite versucht streiflichtartig einen Gang durch verschiedene Erscheinungsformen des modernen Islam und seine Kenntnis und Sicht des Protestantismus. Genau an dieser Stelle wäre eine vertiefte Analyse wünschenswert, die dem notwendigen christlich-islamischen Dialog wichtige Impulse geben könnte. Die von Luther aufgeworfenen Themen, die am Schluss dieses Beitrages als fruchtbar in den Dialog einzubringen genannt werden (etwa Wort Gottes, die Ablehnung von Kreuzzügen, die Doppelthese der Freiheitsschrift), werfen viele Fragen auf, die der Beantwortung harren.

Freilich können nicht alle Bezüge und Beziehungsebenen durchleuchtet werden (das gilt auch für die beiden Beiträge zum Verhältnis Luthers und des Luthertums zum orthodoxen Christentum), aber für die Zukunft wäre es wichtig, noch genauer zu erfahren, welche Rolle Luther und Lutherische Theologie in anderen Kulturen und Religionen spielen ­ und wie von dort aus möglicherweise die Frage nach der Vergegenwärtigung in unseren je eigenen Kontexten ganz neu gestellt werden muss. Der Abschnitt »Luthertum und moderne Welt« (453­514) ist mit nur drei Beiträgen etwas enttäuschend. Freilich nicht, was die Beiträge selbst betrifft, wenngleich sie eher schon bekannte und bewährte Felder wie Ernst Troeltschs Lutherdeutung, das Reformationsjubiläum 1917 und das marxistische Lutherbild thematisieren. Hier wäre nun in der Tat der notwendige Raum gegeben gewesen, den Blick auf die »Moderne« in ihrer Beziehung (oder eben auch: Nicht-Beziehung) zu Luther zu werfen. Luther und die Popkultur, Luther und die Spaßgesellschaft, Luther und Bildung, Luthers Verständnis von Leben usw. ­ alles Themen, die man sich gut unter diesem Titel hätte vorstellen können. Ich will nicht behaupten, hier hätte der Band eine große Chance vertan; aber es ist festzuhalten, dass so eine bedeutende Lücke in der Frage nach der Vergegenwärtigung Luthers bleibt. Der letzte Abschnitt schließlich greift unter dem Titel »Zwischen Absicht und Wirkung: Das Werk Martin Luthers aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts« (515­542) in drei Beiträgen ein schwieriges Thema auf: Wie verhalten sich »Luther« und das, was von ihm rezipiert wurde, zueinander? Kann man in der Beschreibung von Person und Werk überhaupt von der Rezeption abstrahieren? Oder ist jemand gar nur das, was von ihm rezipiert wird? Dass diese brennenden Fragen an dem Begriff »Reformkatholik« festgemacht werden, ist treffend, aber sicher nicht hinreichend. Gleichwohl sind die beiden Beiträge dazu äußerst anregend und zeigen, dass Luther und die Reformation in vielerlei Hinsicht auch heute noch ein kontroverstheologisches ­ pardon: ökumenisches Thema sind. Der letzte Beitrag zum Begriff des Widerstandes fällt m. E. etwas aus dem konzeptionellen Rahmen und hätte gerade in der Thematisierung der Befreiungstheologie auch gut im 2. oder 3. Teil des Bandes verortet werden können.

Summa: Es ist eine im Großen und Ganzen repräsentative Sammlung zu Stande gekommen, die ihrem Ziel, eine »Auseinandersetzung, die über retrospektive kulturwissenschaftliche Untersuchungen hinausgeht« (25) zu dokumentieren, allemal gerecht wird. Freilich: Auch der Umfang eines solchen Werkes ist begrenzt, und es bleiben Fragen offen. Der Anspruch auf Vollständigkeit ist indes nicht erhoben worden und nicht wirklich zu erwarten gewesen. So verstehen sich die gestellten Anfragen als echte Anfragen und insofern nicht als Kritik, vielmehr als Anregung, dem ein oder anderen Thema vielleicht an anderer Stelle weiter nachzudenken und weitere Themen (etwa aus den Bereichen Literatur, Musik, Politik) aufzutun.