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Ausgabe:

Juli/August/2006

Spalte:

882–884

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Frank, Günter, u. Friedrich Niewöhner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Reformer als Ketzer. Heterodoxe Bewegungen von Vorreformatoren.

Verlag:

Hrsg. unter Mitarbeit v. S. Lalla. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2004. 384 S. gr.8° = Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten, 8. Geb. Euro 48,00. ISBN 3-7728-2235-5.

Rezensent:

Daniela Müller

Der Titel ist Programm: In diesem Band geht es um Reformer, die zu Ketzern wurden, bzw. zu solchen gemacht wurden. Nun ist eigentlich spätestens seit den Arbeiten Herbert Grundmanns in der deutschsprachigen Forschung bekannt, dass ein nicht zu leugnender ursächlicher Zusammenhang zwischen Kirchenreform und Auftreten von heterodoxen Bewegungen besteht, doch wurde dies selten von modernen Historikern so offen auf den Punkt gebracht.

Der Band ist Ausfluss einer Tagung im Jahre 2000 unter Leitung von Friedrich Niewöhner und Günter Frank im Melanchthonhaus in Bretten, deren Thema die Stellung und Bedeutung der mittelalterlichen Reformbewegungen im Spektrum der westlichen Kirchengeschichte war. Da das Thema »Ketzer und ihre Verfolgung« besonders für die Reformationsgeschichte von erheblichem Interesse ist, wundert es auch nicht, dass es nun ausgerechnet in der Melanchthonstadt aufgegriffen wurde. Eine tiefgreifende Umbewertung der Ketzer und ihrer Stellung im Plan der Heilsgeschichte hatte ja nicht erst mit der »Unparteiischen Kirchen- und Ketzerhistorie« von Gottfried Arnold begonnen, sondern bereits Sebastian Franck und vor allem auch Martin Luther hatten dem Ketzerbegriff einen positiven Klang gegeben und damit die bislang als Monopol geltende, rein negative Auffassung der katholischen Kirche von Ketzerei durchbrochen. Seit dem 16. Jh. hat sich demgemäß die Praxis entwickelt, von »Vor-Reformatoren« zu sprechen, wobei vor allem der Melanchthon-Schüler Flacius Illyricus mit seiner Wendung »Zeugen der Wahrheit« hierbei einen entscheidenden Grundstein gelegt hatte. Nicht zufällig taucht Flacius Illyricus in mehreren der Beiträge mehr oder weniger zentral auf und es ist ihm sogar ein eigener Artikel von Wilhelm Schmidt-Biggemann gewidmet, in dem der »Catalogus testium veritatis« als kontrovers-theologische Polemik diskutiert wird. Einen solch christlich bzw. konfessionell gefärbten Unterton vermeidet der Band bewusst. Stattdessen sind die Autoren der hier versammelten Beiträge bemüht, gerade auch die Instrumentalisierung der zur Diskussion stehenden Bewegungen im konfessionellen Rahmen zu beleuchten. Am Beginn steht der begriffsgeschichtlich außerordentlich spannungsreiche Beitrag von Theodor Mahlmann zu dem oft überstrapazierten Begriff der Vorreformation bzw. der Vorreformatoren, in dem der Autor auf überzeugende und erhellende Weise darlegt, dass eine solche Begrifflichkeit sich zwar aus pragmatischen Gründen ergeben mag, aber nichtsdestotrotz einen Anachronismus erster Güte darstellt. Sein historischer Rückblick über die Entstehungsgeschichte der Begriffe Vorreformation und Vorreformatoren ist eine mustergültige Abhandlung deskriptiv-normativer Art, dessen Lektüre sicherlich einen allzu unbedachten Umgang mit diesen Begriffen zu verhindern hilft. Im einzigen Beitrag, der sich nicht explizit den westlichen Bewegungen widmet, untersucht einer der Herausgeber, Günter Frank, das Beispiel der östlichen Paulikianer, jedoch nicht an sich, sondern mit dem Ziel, an ihnen die Wirklichkeit und die Topik des so genannten Vorreformatorischen deutlich zu machen. Allerdings fällt hier, bei aller gelehrten Text- und Ideologiekritik, doch ein weitgehend undifferenzierter Sprachgebrauch auf, der Markion, Manichäismus und Gnosis miteinander verschmelzen lässt. Gerade am Beispiel der Paulikianer hätte sich gut zeigen lassen, wie sehr das Bemühen, eine »eigene« (Gegen-)Kirchentradition aufzubauen, die als Heilige die als Ketzer Verurteilten in ihren eigenen Kanon aufnahm, im konfessionellen Zeitalter Konturen annahm. Die philosophische Idee der Armut als treibende Kraft im Fortgang der Geschichte stellt Kurt Flasch vor, der damit die lieb gewordene Perspektive der christlichen Geschichtsschreibung gerade rückt, die die Armut als ein Sondergut der christlichen Askese und/ oder des Mönchtums begreifen will. Der Bogen spannt sich dabei von der Antike über Dante und Eckhart bis zum Dadaisten Hugo Ball. Grundlagencharakter trägt der kenntnisreiche und von hohem analytischen Geschick zeugende Beitrag von Peter Dinzelbacher über die »Achsenzeit des Hohen Mittelalters und die Ketzergeschichte«, dessen Bemerkung, dass, mit Bezug auf die Katharer, »damals zum ersten Mal in der europäischen Religionsgeschichte die Möglichkeit zu einem Pluralismus von christlichen Konfessionen« (118) gegeben war, sich mit einer Feststellung der Rezensentin von 1999 trifft. Konfessionalität sollte als Begriff erneut zur Diskussion gestellt werden und neue Akzentuierungen erhalten.

Die noch strikt heilsgeschichtlich verankerte Geschichtsauffassung des Joachim v. Fiore wird von Kurt-Viktor Selge vorgestellt und das radikal diesseitige Denken von Tauler durch Johann Kreuzer. Vier Beiträge haben konkrete, als ketzerisch verfolgte Gemeinschaften zum Thema: Amalie Fössel trägt die Ergebnisse ihrer Dissertation über die Gruppe der im schwäbischen Ries anzusiedelnden Ortlieber in komprimierter Fassung zusammen, Anne Hudson fragt nach zeitgenössischen Einflüssen auf die Anhänger Wycliffs, Peter Segl untersucht die Auswirkungen der hussitischen Bewegung auf Europa und Gabriel Audisio gibt mit anschaulichen Belegen die Erklärung, warum die Waldenser ihre Prediger als Ärzte nicht nur der Seele, sondern auch des Körpers betrachteten. Zwei Beiträge, von Miha´ly Bala´zs und Sebastian Lalla, beinhalten die Auseinandersetzung mit den antitrinitarischen Strömungen im Mittelalter auf hohem philosophischen Niveau, allerdings ohne deren spätantike Wurzeln auch nur zu streifen. Die abschließenden drei Beiträge sind von direkter Bedeutung für die Reformationsgeschichte und stellen die Rezeptionsgeschichte zentral: der schon erwähnte Beitrag zu Flacius Illyricus, der die Ursprungsgeschichte der Waldenser in den Cottischen Alpen vor und nach der Reformation beleuchtende Artikel von Albert de Lange und der Schlussbeitrag von Jörg Feuchter über Albigenser und Hugenotten. Die Beiträge vereinen in sich somit viele Facetten des spannungsreichen Themas von dem religiös motivierten Kampf gegen bestehende Strukturen und von der Suche nach dem legitimen Auslegungsmonopol im Christentum. Philosophie, Sprachanalyse und Rezeptionsgeschichte stehen neben den klassischen historischen Perspektiven und lassen ein Diskussionsforum entstehen, auf dem alte Themen unter neuen Gesichtspunkten Gewinn bringend diskutiert werden können, im inter-disziplinären, aber auch im inter-konfessionellen Raum. Die Option, den Beitrag von Anne Hudson und von Gabriel Audisio in den jeweiligen Muttersprachen stehen zu lassen, verhindert dabei auch das Verlorengehen von Nuancierungen durch eine Übersetzung, wie es im Beitrag von Miha´ly Bala´zs leider zum Ausdruck kommt. Alles in allem erwartet den Leser eine profilierte, Gewinn bringende Lektüre.