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Ausgabe:

Juli/August/2006

Spalte:

864 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

King, Karen L.

Titel/Untertitel:

The Gospel of Mary of Magdala. Jesus and the First Woman Apostle.

Verlag:

Santa Rosa: Polebridge 2003. X, 230 S. m. Abb. gr.8°. Kart. US$ 20,00. ISBN 0-944344-58-5.

Rezensent:

Jens Schröter

Das in neuerer Zeit verstärkt in die Erforschung des frühen Christentums einbezogene, nur fragmentarisch erhaltene Mariaevangelium (EvMar) gehört zu den interessantesten Entdeckungen der außerkanonischen Jesusüberlieferung. Karen King gibt eine verständlich geschriebene, mit Abbildungen sowohl der koptischen Seiten des Berliner Papyrus (BG 8502) als auch der griechischen Fragmente (Papyrus Rylands 463 und Papyrus Oxyrhynchus 3525) versehene Einführung in Fundgeschichte, Inhalt und theologiegeschichtliche Stellung der Schrift, einschließlich einer englischen Übersetzung.

EvMar wird als im 2. Jh. entstandenes Dialogevangelium beurteilt, das an der Autorität Marias als Garantin der authentischen Lehre des Erlösers orientiert ist. Die Hörer bzw. Leser sollen sich, um ihr Selbst zu finden, nicht an der irdischen, sondern an der oberen Welt ausrichten, die Maria in einer Vision offenbart wurde. Jesus erscheint als Vermittler der Lehre von der Auflösung des Körpers und der Unsterblichkeit der Seele im Tod. Wichtig ist also die Anthropologie: Nur die Seele gehört dem oberen Bereich an und wird gerettet werden, der Leib dagegen wird in seine irdischen Bestandteile aufgelöst werden. Sünde existiert nicht an sich, sondern wird erst durch die Ausrichtung auf die irdische Natur vom Menschen hervorgebracht. Es gelte deshalb, das in die Welt gekommene Gute, den »Menschensohn im Innern«, zu finden.

EvMar sei ein Beleg für die Unangemessenheit der Einteilung frühchristlicher Schriften in »orthodox« und »häretisch«. Der Befund, der sich aus den Nag Hammadi-Schriften, aber eben auch aus EvMar, ergebe, sei wesentlich komplexer. Erkennbar werde eine Interpretation der Lehre Jesu in platonischen und stoischen Kategorien, die auch im Thomasevangelium und im Dialog des Erlösers begegne und sich bis in die Anfänge des Christentums zurückverfolgen lasse. Die Grenzen etwa zum Johannesevangelium seien dabei, wie K. im Anschluss an Helmut Köster argumentiert, durchaus fließend. Sie erwägt sogar, dass die im JohEv den Jüngern untergeordnete Rolle Marias als Auferstehungszeugin im EvMar korrigiert werde.

Nicht die Frage der Abhängigkeit oder Unabhängigkeit von neutestamentlichen (präziser: kanonisch gewordenen) Schriften und die damit zumeist verbundene Abwertung als »häretisch«, sondern die eigenständige Interpretation der Jesusüberlieferung sei deshalb ausschlaggebend für die Einordnung von EvMar in die frühchristliche Literatur. Diese sei nicht nur auf literarische Abhängigkeit, sondern auch auf mündliche Überlieferung zurückzuführen. K. notiert auch Analogien zu Paulus: EvMar bearbeite ein mit Röm 7­8 vergleichbares Problem (die Überwindung von Sünde und Tod) und favorisiere eine ähnliche Lösung (die Orientierung am Geist). In beiden Schriften werde zudem die Rolle des Gesetzes thematisiert. Unterschiedlich sei freilich die Anthropologie, denn Paulus halte an der Einheit von Körper, Seele und Geist fest.

In einem weiteren Kapitel werden die Zeugnisse über Maria Magdalena in den frühchristlichen Schriften vorgestellt. Es ergeben sich zwei Bilder: dasjenige einer wichtigen Jüngerin Jesu und Lehrerin der frühen Kirche, begabt mit Visionen und besonderen geistigen Einsichten, und dasjenige einer reuigen Prostituierten. Obwohl beide Bilder legendarisch ausgeschmückt worden seien, habe nur das erste, in außerkanonischen Quellen belegte, Anspruch auf historische Wahrheit, das zweite, auf den neutestamentlichen Evangelien gründende und im westlichen Christentum fortgeschriebene, sei dagegen reine Erfindung.

Ein längeres Kapitel befasst sich abschließend mit der Frage, wie eine Geschichte des frühen Christentums angesichts der in den letzten Jahrzehnten edierten außerkanonischen Schriften zu konzipieren sei. Mit der Formulierung von Dogmen wie etwa dem Nicänum habe die frühe Kirche viele frühchristliche Stimmen zum Verstummen gebracht. Diesen Stimmen, die auch im Neuen Testament selbst ­ etwa in den von Paulus im Galaterbrief bekämpften Gegnern ­ wahrnehmbar seien, müsse wieder Gehör verschafft werden. Im Rahmen einer solchen Pluralität des frühen Christentums sei auch EvMar zu interpretieren. Die Kennzeichnung als »gnostisch« sei dagegen dazu angetan, seine Bedeutung von vornherein abzuwerten.

K. hat eine gut lesbare, alle wichtigen Aspekte berücksichtigende Einführung in das EvMar im Rahmen der frühchristlichen Literatur verfasst. Zugleich handelt es sich um einen anregenden Beitrag zu einer Neukonzeption der Geschichte des frühen Christentums. Nicht alle Urteile sind überzeugend. Insbesondere das Verhältnis von EvMar zur frühen Jesusüberlieferung und zu Paulus erscheint weiterer Diskussion bedürftig. Ob das Konzept der Pluralität den Textbefund schon hinreichend erklärt, wäre ebenfalls zu diskutieren. Dass die vielfältigen Formen, in denen seit dem 2. Jh. philosophische und mythologische Vorstellungen herangezogen wurden, um die Bedeutung Jesu zu interpretieren, differenzierter Wahrnehmung bedürfen, steht dagegen außer Zweifel. Hierzu leistet der Band einen wichtigen Beitrag.