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Ausgabe:

Juli/August/2006

Spalte:

860–862

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Zager, Werner

Titel/Untertitel:

Liberale Exegese des Neuen Testaments. David Friedrich Strauß ­ William Wrede ­ Albert Schweitzer ­ Rudolf Bultmann.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2004. XI, 184 S. m. 2 Abb. 8°. Kart. Euro 19,90. ISBN 3-7887-2040-9.

Rezensent:

Reinard von Bendemann

Herkunft muss nicht immer Zukunft sein. Diese Einsicht betrifft auch die Geschichte der neutestamentlichen Wissenschaft. Dagegen wird in Hinsicht auf die Väter der »liberalen Theologie« in jüngerer Zeit die Frage intensiviert gestellt, inwieweit nicht allein ihre philologisch-historischen Errungenschaften, ihre verschieden betriebene Spurensuche nach ðhistorischer WahrhaftigkeitÐ, sondern auch ihre vielfach kritisch gegen ihre Zeitgenossen gewendeten theologischen Bemühungen nicht allein unter das unentbehrliche Erbe des Faches gehören, sondern vielmehr auch in der jüngsten exegetischen Arbeit neu Wege zu eröffnen und zu bahnen vermögen, die teils oder ganz aus dem Blick geraten sein könnten. Im Rückblick kann es so bisweilen gar scheinen, als seien die geraden Wege der »liberalen Theologie« im 20. Jh. in der deutschsprachigen Theologie und Exegese durch die dialektische Theologie und weitere Facetten einer Wort Gottes-Theologie in düsteren Jahren nur störend unterbrochen oder verdrängt worden und als habe mancher methodische Neuaufbruch zu den unverstellten lichthaften Anfängen erst wieder zurückfinden müssen. Gegenüber solcher vereinfachten Sichtweise lassen sich jedoch die Entwicklungen des 20. und 21. Jh.s nicht einfach als glatte Absagen, Brüche oder Fehlentwicklungen begreifen, sind vielmehr Kontinuitäten und konsequente Übergänge im Rückblick klarer erkennbar und treten retrospektiv auch die Grenzen liberal-exegetischer und -theologischer Arbeit in unterschiedlicher Deutlichkeit zu Tage. Dass das forschungsgeschichtliche Feld in seinen verschiedenen Erstreckungen und Verwerfungen dabei sehr viel genauere Vermessung verdient, die Grenzen etwa zur religionsgeschichtlichen Schule nicht so einfach zu ziehen sind, die »liberale Exegese« früh in prominenten Vertretern auch eigene Prämissen, Profile und Credo-Sätze in Frage stellen und durch bis heute bedenkenswerte Anstöße und Beiträge transzendieren konnte ­ dies keineswegs eo ipso unter konsequenter Absage an systematische Theoreme und metaphysiche Erwägungen ­, zeigt eindrücklich der von Werner Zager komponierte Band. Z. begreift liberale Theologie »nicht als Bezeichnung eines uniformen theologischen Systems, sondern als Sammelbezeichnung vielfältiger theologischer Denkbemühungen« (VII).

Sechs bereits an anderem Ort publizierte Beiträge, in denen Edition von häufig bislang Unpubliziertem und kritische einleitende und auswertende Analyse eine Synthese eingehen können, werden in einem sinnvollen Rahmen zusammengefasst (»Das ðLeben Jesu, kritisch bearbeitetÐ von David Friedrich Strauß« [3­21]; »Unveröffentlichte Briefe William Wredes zur Problematisierung des messianischen Selbstverständnisses Jesu« [hrsg. v. H. Rollmann u. W. Zager; 25­89]; »Albert Schweitzers Anleitung zu selbständiger exegetischer Arbeit. Kleine Lesefrüchte aus den Kollegheften Albert Schweitzers« [93­97]; »Albert Schweitzer: ðReich Gottes und ChristentumЫ [98­100]; »Albert Schweitzer: ðStraßburger VorlesungenЫ [101­105]; »Albert Schweitzers Interpretation des Galaterbriefs. Ein Impuls für die heutige Paulus- und Actaforschung« [106­132]). Am Ende stehen »Unveröffentlichte Dokumente aus der Frühzeit Rudolf Bultmanns. Arthur und Rudolf Bultmann als liberale Theologen« (135­169; u. a. die Zusammenfassung der Examensarbeit Bultmanns über 1Kor 2,6­16 vom Juni 1906). Abgerundet wird der Band durch zwei Faksimiles sowie ein Stellen- und Autorenregister.

Die einzelnen Texte sind editorisch sorgfältig aufgearbeitet und vom Herausgeber kenntnisreich forschungshistorisch eingebettet. Hierbei werden bekannte Profile geschärft, zugleich sind auch neue Entdeckungen zu machen. Spannend ist es z. B., die Veränderungen zu verfolgen, die Strauß¹ ­ in der Auseinandersetzung mit Schleiermacher ­ entworfenes »Leben Jesu« in seinen verschiedenen Auflagen und Ansätzen durchlaufen hat. Insbesondere die zentralen exegetisch-historischen wie theologischen Bezugspunkte des Streits um die Auferstehung Jesu, der in jüngerer Zeit für eine ðabgeleiteteÐ Aufregung gesorgt hat, sind bekanntlich längst hier bei Strauß nachzulesen.

Die Zusammenstellung brieflicher Äußerungen William Wredes zu christologischen Fragestellungen bietet über bereits publizierte Schreiben hinaus zahlreiches unveröffentlichtes Material. Nebenbei erfährt man interessante Details aus der Korrespondenz der beiden Brüder Ruprecht mit Wrede. Von besonderem Interesse ist die Selbstanzeige Wredes zum »Messiasgeheimnis in den Evangelien« aus der »Christlichen Welt« von 1901, in der er Anliegen und methodisches Gefälle seiner Untersuchung selbst auf den Punkt gebracht hat (63­65). Besonders die zeitgenössischen Positionen zum Menschensohnproblem, zu dem Wrede mit seiner Theorie prononciert Stellung bezog, führen immer wieder auf methodische und material-exegetische Fragen, die bis heute nicht abschließend gelöst sind, für deren Lösung man jedoch nach wie vor den von Wrede abgesteckten Rahmen christologischer Interpretationsarbeit der Evangelisten beachten wird, wie er die redaktionsgeschichtliche Arbeit an den Evangelien antizipiert hat.

Detaillierte Einblicke gewinnt man ferner in die Voraussetzungen wie die Genese von Albert Schweitzers Werk »Die Mystik des Apostels Paulus« (publiziert erst 1930), indem die »eschatologisch-mystische« Exegese analysiert wird, wie sie bereits der 31-jährige Privatdozent Schweitzer vortragen konnte. Auch hier wird man nicht allein in forschungsgeschichtliche Präterita eingeführt, sondern sieht sich stimulierend mit den Schweitzerschen Lösungen historisch-philologischer Detailprobleme konfrontiert (vgl. z. B. 117 zum argumentum e silentio, nach dem ein kursorischer Bericht bei Lukas regulär historisch Bedeutsames überlagern könne [ad Apg 18,22 f.]).

Z. benennt dabei immer wieder zusammenfassend Impulse, die seines Erachtens für heutige Exegese bleibend und weiterführend sein können. Die Darstellung ist dabei keineswegs unkritisch (z. B. zur Interpretation des paulinischen Gesetzesverständnisses durch Schweitzer: 128 f.). Sie vermeidet Beckmesserei und zugleich die anachronistische Vermischung zeitlich auseinander liegender und inzwischen diversifizierter Diskussionsfelder. Die behutsame kritische Perspektive ist auch dort gewahrt, wo die Liberalen selbst sich ihrerseits kräftig ideologischer Wahrnehmungsschemata bzw. dogmatischer Konstrukte bedienten, um das frühe Christentum historisch zu erschließen (vgl. z. B. den Anschluss an Hegel bei Strauß; a. a. O., 15 f.; Z. postuliert dagegen für die liberalen Theologen geradezu eine »Freiheit von dogmatischen Formeln« [VII], was sicher ihrem Anspruch nahe kommt, im Rückblick aber nicht auf quasi neutrale Operationen verweisen kann). Schwachstellen der exegetischen Bemühungen bzw. Kritik etwa am Geschichtsverständnis der liberal-theologischen Entwürfe (besonders an den Eschatologiekonzepten bzw. am Umgang mit dem frühen Judentum) umfassender und in stärker systematisierter Form vorzutragen, ist nicht das Anliegen des Bandes, der aus verschiedenen Blickwinkeln an Pionierleistungen von Fachwissenschaftlern erinnert, die in ihrer Zeit vielfach kurzsichtig kritisiert wurden, deren Einsichten aber tatsächlich zum zu bewahrenden Erbe gehören, das in vielen Fällen mit guten Gründen bis heute auch gegen anders lautende Perspektiven und Resultate zu verteidigen ist.