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Ausgabe:

Juli/August/2006

Spalte:

856–858

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Marguerat, Daniel

Titel/Untertitel:

La première histoire du christianisme. Les Actes des apôtres. 2e édition mise à jour.

Verlag:

Paris: Cerf; Genève: Labor et Fides 2003. 466 S. 8° = Lectio divina, 180. Kart. Euro 32,00. ISBN 2-204-06293-6 (Cerf); 2-8309-0956-9 (Labor et Fides).

Rezensent:

Jens Schröter

Die Sammlung von Aufsätzen zur Apostelgeschichte des renommierten Lausanner Exegeten Daniel Marguerat liegt bereits in zweiter Auflage vor (zuerst 1999). Eine Auswahl ist auch in englischer Übersetzung erschienen, interessanterweise unter einem Titel, der den Historiker Lukas an Stelle der von ihm erzählten Geschichte in den Mittelpunkt rückt (The First Christian Historian, MSSNTS 121, Cambridge 2002).

Bereits der erste Beitrag, »Comment Luc écrit l¹histoire«, macht deutlich, dass M. mit der neueren geschichtstheoretischen Forschung den Dualismus von »Fakten« und »Fiktionen« für unzureichend hält. Wie bei anderen Geschichtswerken greife auch bei der Apg die Alternative »Geschichte oder Erzählung« zu kurz. Geschichte werde stets als Erzählung konstruiert und sei deshalb immer aus einer bestimmten Perspektive verfasst. M. nimmt sodann Paul Ric¦urs Unterscheidung dokumentarischer, explikativer und poietischer Merkmale einer Geschichtsdarstellung auf. Da diese auch in der Apg festzustellen seien, lasse sich das Werk im Rahmen der antiken Historiographie verstehen. Die Besonderheit sei seine Stellung am Schnittpunkt jüdischer und griechischer Geschichtsschreibung.

Im zweiten Beitrag, »Un récit de commencement«, befasst sich M. mit der Frage nach Gattung und Ziel der Apg sowie der Intention, die Lukas bei der Abfassung einer Fortsetzung seines Evangeliums leitete. Auf die Apg lasse sich am ehesten die Gattung Historiographie anwenden, wobei die Grenze zwischen dieser und dem antiken Bios nicht immer scharf zu ziehen sei. Näherhin lasse sie sich als »Geschichte eines Anfangs« (»histoire de commencement«) charakterisieren. M. übernimmt diesen Ausdruck von Pierre Gibert, der damit die grundlegende Bedeutung hervorhebt, die ein bestimmtes Ereignis im Rückblick für die eigene Geschichte erhält. Gründend in der Geschichte Israels und dem Wirken Jesu erzähle die Apg die Entstehung einer neuen Bewegung, also eines Anfangs. Damit werde zugleich die Geschichte selbst zum Raum des Wirkens Gottes: Das Wirken Jesu könne nicht ohne seine Fortsetzung durch die Apostel verstanden werden, Jesus nicht ohne Paulus.

Der dritte Beitrag befasst sich mit der Frage nach der Einheit von LkEv und Apg. Diese liege nicht an der Textoberfläche, sei also keine gattungsmäßige Einheit, sondern eine im Leseprozess herzustellende. Lukas verwende hierfür verschiedene Techniken, um den Leser zu lenken: elliptische Prolepsen (etwa die vorgreifende Beschreibung der Ausbreitung des Jesuszeugnisses in Apg 1,8, die Weissagung Simeons in Lk 2,29­35 oder die Hinwendung Jesu nach Jerusalem in Lk 9,51), narrative Verknüpfungen (»des chaînes narratives«, z. B. die verschiedenen »Hauptmänner« in LkEv und Apg oder die mehrfache Erzählung der Paulusbekehrung in der Apg) sowie die Herstellung von Intertextualität durch Synkrisis (z. B. Jesus ­ Stephanus oder Jesus ­ Petrus ­ Paulus).

Ein weiterer interessanter Beitrag ist dem Thema »Un Christianisme entre Jérusalem et Rome« gewidmet. M. möchte hier das übliche Negativ/Positiv-Schema durchbrechen, das häufig mit der Bedeutung der beiden Städte in der Apg verbunden wird. Sie stünden jedoch vielmehr für die Verbindung jüdischer und griechisch-römischer Erzählwelt. Dies wird anhand der Charaktere Paulus, Barnabas und Timotheus sowie der so genannten »Gottesfürchtigen« vorgeführt. Es zeige sich auch, wie M. in Aufnahme einer Bemerkung von H. J. Cadbury argumentiert, an der semantischen Ambivalenz des lukanischen Werkes. Als Beispiele werden das Bekenntnis des Hauptmanns (»dieser Mensch war ein Gerechter«), die Charakterisierung der Athener als »sehr religiös« oder aber »sehr abergläubisch« in Apg 17,22 oder die Verwendung des Terminus »Retter« angeführt. Hinter derartigen semantischen Mehrdeutigkeiten stehe ein »theologisches Integrationsprogramm«. Die mit Jerusalem und Rom bezeichneten Welten sollten im lukanischen Werk deshalb nicht gegeneinander gestellt, sondern einander gerade angenähert werden.

Das nächste Kapitel befasst sich mit der Rolle Gottes im Geschichtsbild des Lukas (»Le Dieu des Actes«). Lukas rede in impliziter Weise von Gott, wenn er nämlich durch einen Engel, die Apostel oder den Geist wirke, aber auch explizit, so etwa in den Bezeichnungen als Gott, Herr und Vater. Auch in den zuletzt genannten Fällen erscheine Gott aber nur in Worten der handelnden Figuren, trete dagegen niemals direkt als Handlungsträger auf. Gott sei also in der Apg nie unmittelbar erfahrbar. Dies erkläre auch, warum die Personen der Handlung oftmals nicht erkennen, dass bzw. auf welche Weise sie zur Durchführung des göttlichen Geschichtsplans beitragen (wie z. B. Gamaliel, der sich für die Freilassung der Apostel einsetzt, oder Petrus, der die Bedeutung seiner Vision erst später erkennt). Gott lenke so oftmals auf verborgene Weise die Geschichte und mache sich dabei auch die Pläne seiner Gegner zu Nutze (so z. B. wenn sie den gefangenen Paulus nach Rom bringen). Die Darstellung des Handelns Gottes in der Geschichte habe deshalb des Öfteren eine ironische Note.

Ein weiterer Beitrag behandelt das Thema »Juden und Christen im Konflikt«. M. hält die Alternative »judenfeindlich oder judenfreundlich« für unzureichend und möchte die Parameter der Diskussion neu definieren. Lukas vertrete beide Sichtweisen gleichzeitig: Einerseits läge in der Diskontinuität von Judentum und Christentum ein deutlich negativer Akzent der Beurteilung Israels. Dies erkläre sich nicht zuletzt aus dem Bestreben, die Identität der von Israel getrennten Kirche zu stärken. Zugleich werde die Geschichte des entstehenden Christentums jedoch als Fortsetzung der Geschichte Israels erzählt. Insofern bestehe zugleich eine Kontinuität in der Diskontinuität. Das Bild des Judentums bei Lukas sei demnach ein dialektisches.

Dem korrespondiert der Beitrag über das Ende der Apg (»L¹énigme de la fin des Actes [Ac 28,16­31]«). Das Rätsel bestehe darin, dass Lukas den Leser mit dem Bild des in Rom ungehindert predigenden Paulus entlässt, seinen Tod dagegen nicht erzählt. Dieses offene Ende sei bewusste literarische Gestaltung. Der frei predigende Paulus, dessen Mission an ihr Ende gekommen ist, sei das Bild, das der Kirche im Gedächtnis bleiben solle. Damit bleibe auch das Geschick Israels in der Schwebe. Zwar dürfe nicht verharmlost werden, dass mit dem letzten Wort des Paulus die Hoffnung auf eine Bekehrung des jüdischen Volkes an ihr Ende gekommen sei, Gottes Verheißungen an Israel würden von Lukas jedoch ­ ähnlich wie in Röm 9­11 ­ nicht revoziert.

Weitere Kapitel behandeln das Wirken des Geistes (»L¹ ¦uvre de l¹Esprit«), Wunder und Heilungen (»Magie et Guérisons«), die »Ursünde« von Ananias und Saphira (»Ananias et Saphira [Ac 5,1­11]: le péché originel«), die Bekehrung des Saulus (»La conversion de Saul [Ac 9; 22; 26]«) sowie Reisen und Reisende als Charakteristikum der Erzählwelt der Apg (»Voyages et voyageurs«). Der letzte Beitrag befasst sich mit den Paulusakten als einer »Relecture« der Apg (»Les ðActes de PaulÐ, une relecture des Actes canoniques«).

Der Ansatz M.s ist vor allem durch die Verbindung narratologischer Forschungen mit der Historiographie gekennzeichnet. Die Beiträge zeichnen sich deshalb, neben ihrer guten Lesbarkeit, durch einen eigenständigen Zugriff auf die erste christliche Geschichtsdarstellung, die zugleich eine bewusst gestaltete Erzählung ist, aus. Damit werden neuere Entwicklungen in der Geschichtstheorie aufgenommen und für die Apg-Forschung fruchtbar gemacht. Zum Verhältnis von LkEv und Apg ist in dem einen kurzen Beitrag sicherlich das letzte Wort noch nicht gesprochen, und auch das Verhältnis von Geschichte Israels und Geschichte der Kirche wäre weiter zu diskutieren. Trotz zahlreicher anregender Beobachtungen bleibt zudem der Eindruck, dass es dem Band an Kohärenz mangelt. Dies liegt zweifellos daran, dass es sich um zuvor separat publizierte Einzelaufsätze handelt. Für eine gemeinsame Veröffentlichung wären jedoch die Abstimmung aufeinander sowie ein Resümee des Ertrages im Blick auf die erste christliche Geschichtserzählung hilfreich gewesen.