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Ausgabe:

Juli/August/2006

Spalte:

853–856

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Köhn, Andreas

Titel/Untertitel:

Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer. Studien zu Biographie und Theologie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2004. XVI, 366 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 180. Kart. Euro 64,00. ISBN 3-16-148376-6.

Rezensent:

Alf Christophersen

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Kuhn, Dieter: Metaphysik und Geschichte. Zur Theologie Ernst Lohmeyers. Berlin-New York: de Gruyter 2005. XIII, 197 S. gr.8° = Theologische Bibliothek Töpelmann, 131. Geb. Euro 74,00. ISBN 3-11-018379-X.

Dem Neutestamentler Ernst Lohmeyer, dessen Arbeiten auch weit in die Felder von Religionsphilosophie und Systematischer Theologie hineinreichten, sind zwei sich unbeabsichtigt ergänzende Dissertationen gewidmet, die beide beanspruchen, zu einer Wiederentdeckung seines Werkes und einer Präzisierung des bisherigen Lohmeyer-Bildes ­ gerade auch im Hinblick auf seine Biographie ­ beitragen zu können.

1) Andreas Köhn legt in seiner von Gerhard Sellin betreuten Arbeit, mit der er 2002 in Hamburg promoviert wurde, den Fokus auf das neutestamentliche Werk Lohmeyers, gleichzeitig jedoch auch auf eine detaillierte Rekonstruktion seiner biographischen Entwicklung. Als besonders aufschlussreich erweist sich dabei die Auswertung der Bestände im Universitätsarchiv Greifswald und eines Teilnachlasses im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin. Lohmeyer, 1936 von Breslau nach Greifswald zwangsversetzt, wurde am 19. September 1946 von einem sowjetischen Militärkommando erschossen. Im Februar war er als designierter Rektor der Universität Greifswald einen Tag vor ihrer Neueröffnung, wohl auf Grund einer gezielten Denunziation, aus politischen Gründen verhaftet und auf Grund des Vorwurfs, für Verbrechen während des Krieges verantwortlich zu sein, von einem Militärtribunal zum Tode verurteilt worden. Am 15. August 1996 wurde Lohmeyer rehabilitiert. Erst 1958 hatte die Familie Mitteilung vom genauen Todesdatum erhalten (vgl. 150­156).

Der Herausgeber der Reihe »Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament« Jörg Frey hat der Dissertation ein Geleitwort vorangestellt (V­XII). Der Neutestamentler Lohmeyer erscheint darin als ein Antipode Rudolf Bultmanns. Indem Lohmeyer etwa 1926 die Jesus-Darstellung Bultmanns als »ein Buch von Jesus ohne Jesus« charakterisierte, habe er »die Einseitigkeiten des reduktionistischen Zugriffs der formgeschichtlichen und kerygma-theologischen Behandlung der Jesusfrage scharfsinnig benannt« (X). Eine Lohmeyer-Rezeption großen Stils blieb gleichwohl bis heute aus. Als Hauptgrund für diese Nicht-Wahrnehmung identifiziert Frey die »eigentümliche, symbolistische Sprache« (VII) des Theologen, die sich von Arbeiten des Philosophen Richard Hönigswald und den Sprachwelten des George-Kreises stärker stimulieren ließ als vom Wissenschaftsjargon der eigenen Disziplin.

Seine Dissertation gliedert Köhn in zwei unabhängige Hauptteile: Studien zur Biographie (5­156) und zur Theologie (157­299). Ein Quellenanhang mit zwei Predigten und einem Radiovortrag schließt neben ausführlicher Bibliographie und Registern den Band ab. Im Rahmen der Ausführungen zur Biographie legt Köhn neben der Schilderung der Vorgänge um Lohmeyers Tod, die in der bisherigen Forschungsliteratur bislang nur völlig ungenügend erörtert worden waren, besonderes Gewicht auf die Freundschaft zu Richard Hönigswald sowie auf die engen Beziehungen zum Göttinger Verlagshaus Vandenhoeck & Ruprecht. 1923 wurde Lohmeyer für die Mitarbeit an Meyers Kritisch-exegetischem Kommentar gewonnen. Eingehend wird zudem auch Lohmeyers Einsatz gegen die Deutschen Christen und die nationalsozialistische Kirchenpolitik im Kirchenkampf gewürdigt.

Auch wenn die Darstellung Köhns im Einzelnen den bisherigen Forschungsstand erheblich präzisiert, bleibt zum einen die zu Grunde gelegte Quellenbasis unbegründet selektiv, zentrale Archivbestände ­ wie etwa der Tübinger Bultmann-Nachlass ­ wurden nicht hinreichend ausgewertet. Zum anderen fehlt eine Einbindung der Ergebnisse in die gegenwärtigen Debatten zur Theologiegeschichte der 1920er bis 50er Jahre fast vollständig; auch der zeitgenössische exegetische Diskurs wird nur unzureichend thematisiert. Diese Schwachpunkte treten in den Kapiteln zu Lohmeyers Theologie noch einmal deutlicher zu Tage. Neben einer Auseinandersetzung mit Lohmeyers Entwurf einer »Geschichte der urchristlichen Religion« und seinem Jesus-Bild (157­172.260­289) befasst sich Köhn intensiv mit der »Dichtung als Weltanschauung bei Stefan George und Ernst Lohmeyer« (173­223) sowie dem »Verhältnis von Lohmeyers Theologie zur Philosophie Hönigswalds« (224­259). So anregend und plausibel der Versuch, Lohmeyers berühmte Auslegung und Übersetzung der Johannesoffenbarung in Beziehung zur Dichtung Georges zu setzen, zunächst sein mag, so wenig überzeugt letztlich die Durchführung, die vielfach assoziativ bleibt. Besonders irritierend ist, dass Köhn darauf verzichtet, die breite Sekundärliteratur zu George aufzunehmen. So stehen seine Ergebnisse seltsam unvermittelt neben dem gegenwärtigen Forschungsstand. Einzelne Urteile Köhns wie die Behauptung, Adolf Hitler habe »den Begriff des Führers Š der Ideologie des George-Kreises entlehnt« (208, Anm. 93), erscheinen unbegründet und, vorsichtig formuliert, fragwürdig. Demgegenüber fallen die Passagen zu Hönigswald etwas tiefgehender aus, sind aber von analogen Mängeln geprägt.

2) Dieter Kuhn widmet sich in seiner Tübinger Dissertation vom Wintersemester 2001/2002, angeleitet von Oswald Bayer, aus stärker systematisch-theologischem Blickwinkel dem Werk Lohmeyers. Die knappen Bemerkungen zu Lohmeyers Biographie bleiben dem Stand vor den neuen Ergebnissen der Dissertation Köhns verhaftet (4­6). Lohmeyer habe, so die Leitthese Kuhns, »eine Theologie zwischen Dogmatismus und Historismus« (1) entworfen. Als wesentliche Frage dieser Theologie wird die »Begründung des historisch Rekonstruierten« (2) ausgemacht, die auf ihre religionsphilosophischen Hintergründe untersucht werden solle. Metaphysik und Geschichte setze Lohmeyer im Sinne einer »coincidentia oppositorum« in eins. Die zentrale methodologische Frage seiner Religionsphilosophie sei die Verhältnisbestimmung von Glauben und menschlicher Erkenntnis.

Einer Einleitung lässt Kuhn acht Kapitel zu Lohmeyers Werk folgen: »Religionsphilosophie« (7­40), »Philosophie und Theologie« (41­47), »Verständnis des Mythos« (49­66), »Begriff der Gestalt« (67­72), »Eschatologie und Sprache. Zum ästhetischen Verständnis der Gleichnisse« (73­93), »Theologie des Paulus« (95­120), »Vom jüdischen Kult zum christlichen Abendmahl. Zur Religionsgeschichte des Kultes« (121­141) und schließlich »Die Auslegung des Vaterunsers als Summe der Theologie Lohmeyers« (143­169). Eine Zusammenfassung (161­169) bündelt die Ergebnisse. Anders als Köhn unternimmt Kuhn den Versuch, Lohmeyers Theologie, der er immer wieder das Prädikat »zukunftsweisend« erteilt, mit neueren Konzepten in Verbindung zu bringen ­ im Hinblick auf den Mythos etwa mit Studien Eberhard Jüngels und Manfred Franks oder bei der Gleichnisfrage mit Ansätzen von Paul Ric¦ur und Wolfgang Harnisch. So notwendig es ist, derartige Bezüge aufzuzeigen, so kontextlos und teilweise willkürlich muten sie in der Durchführung an. Dies gilt auch für Kuhns Bemühen, Bezüge zu älteren, klassischen Entwürfen herzustellen, ob er nun im Rahmen der Paulus-Deutung Ferdinand Christian Baur aufgreift oder Adolf Jülichers Gleichnisverständnis heranzieht. Hier wie dort wird auf die gesamte Sekundärliteratur verzichtet. Noch weniger als Köhn verortet Kuhn die Arbeiten Lohmeyers im unmittelbar zeitgenössischen theologischen Diskurs. Auch wenn dies nicht immer erforderlich sein mag, so wäre es doch beispielsweise bei der Aufnahme der Rede von einer »Schöpfungsordnung« hilfreich gewesen, auch die Debatte der 1930er Jahre zu behandeln, statt lediglich auf Eilert Herms¹ Interpretation dieses Begriffs einzugehen (vgl. 153 f.).

Immer wieder kommt es zu hochproblematischen Simplifizierungen, wie sich am Beispiel Ernst Troeltsch zeigen lässt, den Kuhn verschiedentlich mit Lohmeyer in Bezug setzen will: Troeltschs »religionsgeschichtliche Theologie« basiere »auf einer universalgeschichtlichen Methode. Er will das einzelne in den Gesamtzusammenhang einordnen und damit relativieren. Lohmeyer hingegen betont das einzelne und sucht im Besonderen das Allgemeine, geht also gerade den umgekehrten Weg.« Beiden sei jedoch daran gelegen, »die Probleme, die die historische Forschung für die Theologie aufgeworfen hat, zu lösen« (14). Von Troeltschs Aufsatz »Geschichte und Metaphysik« (1898) schlägt Kuhn einen völlig unvermittelten Bogen zu Wolfhart Pannenberg; denn bei ihm »und seiner Schule« finde Troeltschs Metaphysik »ihre Fortführung«. Aber unabhängig davon gelte schließlich, dass sowohl Troeltsch als auch Lohmeyer die Absicht gehabt hätten, »Metaphysik und Geschichte in Beziehung zu setzen«, um »den Historismus auch in der Theologie zu überwinden« (32). Eine in die gegenwärtigen Historismusdiskurse eingebettete Argumentation bleibt Kuhn schuldig. Selbst die Existenz der seit 1998 erscheinenden Kritischen Gesamtausgabe der Werke Troeltschs wird von ihm zu Gunsten der Originaltexte ignoriert. Entsprechend ist Kuhn, obgleich Hönigswald ein inneres Zentrum der Arbeit bildet, die 1999 in Würzburg erschienene Edition des Briefwechsels mit Lohmeyer entgangen.

Zusammengenommen präsentieren die Dissertationen von Köhn und Kuhn vielfältige Einblicke in das facettenreiche Leben und Werk Ernst Lohmeyers. Beide sind in Methode und Durchführung völlig unterschiedlich, setzen vor allem auch disparate Schwerpunkte. Dabei kommt es zu merkwürdigen Spannungen. So ist die für Köhn zentrale Gestalt Stefan George Kuhn gerade einmal eine kurze Erwähnung wert. Besteht jedoch die Nähe zu George, kann bei einer Analyse des Gestalt-Begriffs eigentlich kaum auf diesen Dichter und seinen Kreis verzichtet werden. Umgekehrt spielt für Köhn der Gestalt-Begriff in seiner Arbeit keine Rolle. Die Reihe ließe sich fortsetzen. Die Leistung der Arbeiten Köhns und Kuhns liegt trotz ihres irritierend fragmentarischen Charakters darin, Lohmeyer wieder in Erinnerung gebracht zu haben. Sein theologischer Stellenwert wird in Zukunft wieder genauer bedacht werden müssen ­ dies gilt für sein Zeitverständnis, seine Beiträge zur Entmythologisierungsdebatte und die Apokalyptikforschung ebenso wie für die Sozialgeschichte des Urchristentums.