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Ausgabe:

April/1998

Spalte:

406 f

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Winter, Friedrich

Titel/Untertitel:

Der Fall Defort. Drei Brandenburger Pfarrer im Konflikt. Eine Dokumentation.

Verlag:

Berlin: Wichern 1996. 180 S. 8°. ISBN 3-88981-082-9.

Rezensent:

Rudolf Mau

Im Januar 1975 war es dem wegen versuchter "Republikflucht" in Cottbus inhaftierten Ingenieur-Ökonom Wolfgang Defort gelungen, aus dem Gefängnis zu entkommen und das Dorf Eulo nahe der polnischen Grenze zu erreichen. Er beabsichtigte, über die hohes Wasser führende, an den Rändern vereiste Neiße nach Polen zu fliehen, um von dort aus irgendwie nach Westdeutschland zu gelangen. In Eulo erbat er vom Pfarrer Hilfe für die Fortsetzung der Flucht. Eine auch diesen Ort erfassende Großfahndung war längst im Gange; bis zum Kontakt mit dem Pfarrer war D. schon von wenigstens zehn Personen, u. a. Mitgliedern der sich im Pfarrhaus versammelnden Jungen Gemeinde, bemerkt und als der geflüchtete Gefangene erkannt worden. Der Pfarrer, von der Aussichtslosigkeit des Unterfangens überzeugt, zog den Nachbarpfarrer hinzu, später auch einen weiteren Kollegen; beide kannten als frühere politische Häftlinge den DDR-Strafvollzug. In langen Gesprächen gelang es den beiden Erstgenannten nicht, D. von der Chancenlosigkeit einer weiteren Flucht zu überzeugen und zum Aufgeben zu bewegen. In dieser Situation ­ Tod oder Siechtum bei früheren Fällen gescheiterter Flucht vor Augen ­ entschloß sich dann der zuletzt hinzugezogene Kollege, auch gegen den Willen von D. die Polizei über den (wie bald klar wurde: schon eingekreisten) Aufenthaltsort von D. zu informieren. D. verbüßte noch eine verlängerte Haftzeit und wurde dank kirchlicher Unterstützung 1977 durch Loskauf nach Westdeutschland entlassen. Die beteiligten Pfarrer hatten sich sofort und zwischenzeitlich noch wiederholt für diese dann schließlich erreichte Lösung eingesetzt, die durch das familiäre Umfeld von D. (Ablehnung kirchlicher Kontakte; zwei Stasi-Offiziere unter den Angehörigen) noch erschwert wurde.

Zu einem "Fall" mit starker publizistischer Resonanz wurde das Geschilderte erstmalig seit September 1977, kurz nach D.s Eintreffen in Westdeutschland, sowie 1992/93 aufgrund einer "Report"-Sendung des Südwestfunks Baden-Baden. 1977 wurden die beteiligten Pfarrer von D. durch einen Teil der Tagespresse der Feigheit, des Verrats und hinterhältiger Mißachtung des Gebotes der Nächstenliebe bezichtigt; die "Arbeitsgemeinschaft 13. August" forderte vom Vorsitzenden des DDR-Kirchenbundes die Entlassung aller drei Pfarrer. Seriöse Zeitungen traten aufgrund einer eingehenden kirchlichen Stellungnahme dieser Agitation entgegen. Im Oktober 1992 gab sodann "Report" (auf dem Höhepunkt der Debatte über das Wirken Manfred Stolpes) unter der Ankündigung "Stasi-Pfarrer" eine grob entstellende Darstellung der Vorgänge, zu der den betroffenen Pfarrern eine Gegendarstellung verweigert wurde und dann (aus Formgründen) auch juristisch nicht mehr zu erzwingen war.

Der von Winter sorgfältig dargestellte und dokumentierte Fall erweist sich (neben der geschilderten Diffamierung Beteiligter und kirchenfeindlicher Instrumentalisierung des Ganzen) vor allem als ein Paradigma pastoraler Ethik unter den Bedingungen einer Diktatur, insofern die Stichworte "Amtsverschwiegenheit" und sogar (sachlich unbegründet) "Beichtgeheimnis" ins Spiel kamen. Auch innerhalb der Kirche gab es im nachhinein unterschiedliche Meinungen zu der Entscheidung am Abend der Flucht. Eine ausführliche Stellungnahme der Kirchenleitung sowie eine Kanzelabkündigung (1977) wies die Be-schuldigung der beteiligten Pfarrer als "feige Denunzianten" zurück. Diese hätten, wie es dort heißt, "aus einer letzten Verantwortung heraus" gehandelt; die damals getroffene Entscheidung müsse dem Urteil Gottes überlassen werden.

Die sorgfältige, zurückhaltend-sachliche Darstellung und Dokumentation durch den Vf. gehört ­ nach mancherlei pauschalisierenden und z. T. grob verzeichnenden Darstellungen von Vorgängen, Haltungen und unterstellten Absichten in der Zeit des SED-Regimes ­ zu einer allmählich wachsenden Zahl von genau recherchierten Fallstudien, die als Grundlage für eine abgewogene Urteilsbildung von besonderer Bedeutung sind. Zu den ersten Reaktionen auf das Buch gehört nun freilich wiederum, daß dieses in der Tagespresse als Produkt einer "konsistorialen Abwehrstrategie" diffamiert und im Interesse einer "enttäuschten Öffentlichkeit" erklärt wurde, für "ein paar Brüsewitz-ähnliche (!) Zeugnisse" wäre man "schon dankbar gewesen". Da scheint ein genaueres Wahrnehmen einstiger Konfliktsituationen, dem der Beitrag von W. dienen will, nur zu stören.