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Ausgabe:

Juni/2006

Spalte:

802–804

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Sellmann, Matthias [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Deutschland ­ Missionsland. Zur Überwindung eines pastoralen Tabus.

Verlag:

Hrsg. unter Mitarbeit v. A. Beck, R. Bucher, H. Gasper, H.-B. Gerl-Falkovitz, J. E. Hafner, O. John, H. Müller, H.-J. Sander, E. Türk u. A. Wollbold. Freiburg-Basel-Wien: Herder 2004. 284 S. 8° = Quaestiones disputatae, 206. Kart. Euro 26,00. ISBN 3-451-02206-0.

Rezensent:

Michael Herbst

Das Missionsthema hat seit einigen Jahren Hochkonjunktur oder vielleicht seriöser formuliert: Es erlebt einen »Kairos«. Dass Deutschland Missionsland ist, wurde 1916 von dem evangelischen Praktischen Theologen Gerhard Hilbert (Rostock) gegenüber allzu selbstsicheren Diagnosen der kirchlichen Zustände programmatisch festgestellt. Im französischen und später im deutschen Katholizismus wurde das Motto gelegentlich gebraucht, ohne dass Abhängigkeiten nachzuweisen wären. Nun wird das Stichwort erneut positiv rezipiert und in einer ökumenischen Perspektive traktiert. Das ist in der Tat der Versuch, ein pastorales Tabu zu überwinden. Matthias Sellmann hat zehn unterschiedliche Beiträge zusammengestellt, die freilich miteinander die theologische Klärung der missionarischen Herausforderung vorantreiben. Die wesentlich von Bischof Joachim Wanke (Erfurt) geprägte Schrift der katholischen Bischöfe »Zeit zur Aussaat« (2000) ist der gemeinsame Bezugspunkt der theologischen Überlegungen, wie auch die gesamte katholische und (!) evangelische Diskussion immer wieder durchscheint.

Den evangelischen Leser freut im ersten Beitrag von Hans Gasper (»Das unbekannte Evangelium«, 25­41), wie kenntnisreich nicht nur katholische, sondern auch evangelische Kirchentexte gewürdigt werden, die die Wiederentdeckung der Mission als kirchliche Zentralaufgabe angesichts der kritischen Lage der Großkirchen vor allem, aber nicht nur, in Ostdeutschland begleitet haben. Umgekehrt ist die Rezeption katholischer Dokumente in evangelischen Missionsdebatten noch eher die Ausnahme! Die Jahre 1999/2000 werden als Initialzündung verstanden, zum einen durch den ACK-Prozess »Aufbruch zu einer missionarischen Ökumene«, zum anderen durch die EKD-Synode 1999 in Leipzig, zum dritten durch die Schrift »Zeit zur Aussaat«, die Überlegungen zum Glaubensweg des Apostolischen Schreibens »Evangelii Nuntiandi« von 1975 wieder aufgreift. Die Gemeinsamkeiten der kirchlichen Prozesse sind auffällig, auch wenn nur Synergien, nicht gegenseitige Abhängigkeiten festgestellt werden können.

Ottmar John beleuchtet kritisch die Frage, ob ausschließlich die Misere der Kirche das Motiv zur Mission darstellen dürfe (»Warum missionarisch Kirche sein?«, 42­68). Religionssoziologische Einsichten in den Niedergang der Kirche sind keine hinreichenden Missionsmotive, zumal sie den Rückzug in ein sektenhaftes Ghetto oder die Sehnsucht nach der Restaurierung einer goldenen Vergangenheit befördern könnten. Es gilt vielmehr zu begreifen, dass die Kirche ihrem Wesen nach missionarisch ist, und dann die Gegenwart als neue Herausforderung zur Mission zu verstehen.

Auch Andreas Wollbold stimmt darin ein, dass Mission Herzstück gemeindlicher Existenz ist (»Mission vor der eigenen Tür«, 69­91). Interessant ist sein Versuch einer Ausdifferenzierung des kirchlichen Handelns: »Mission« wendet sich »ad gentes«, d. h. an die, die das Evangelium nicht kennen (z. B. in Ostdeutschland), während »Seelsorge« der »lebendigen Gemeinde« gilt und die »neue Evangelisierung« den Getauften, denen der Sinn ihrer Kirchenzugehörigkeit noch nicht aufgegangen ist (78 f.). Außerdem sieht Wollbold fünf Motive zur Mission, die ein eigenes Recht besitzen (1. Seelen retten, 2. Europa wieder christlich machen, 3. die Gesellschaft nach den Maßstäben des Reiches Gottes gestalten, 4. Zeichen sein), wobei seine Sympathie beim fünften Motiv liegt, das zur Selbst-Evangelisierung herausfordert, nämlich die »Bestürzung« darüber, dass die Gemeinde Gottes so wenig von dem lebt, was sie zu glauben vorgibt.

Annegret Beck (»Mission oder Dialog?«, 92­120) bietet eine hilfreiche Zusammenfassung von kirchensoziologischen Untersuchungen in Ostdeutschland an. Sie zeigt die komplizierte Lage, in der sich die christlichen Kirchen als Minderheiten in einer überwiegend areligiös geprägten Umgebung befinden, freilich auch, dass es ­ wo immer authentische Gelegenheiten geboten werden ­ ansprechbare Menschen im atheistischen Milieu gibt. Anregend ist die Einschätzung der missionarischen Rahmenbedingungen katholischer Christen, etwa die Wahrnehmung der Prägungen in der DDR-Zeit und die Überforderungen nach der Wende. Beispiele gelungener missionarischer Bemühungen (z.B. »Feier der Lebenswende« in Erfurt als Alternative zur Jugendweihe) folgen. Beck nimmt den von E. Tiefensee geprägten Begriff der »Ökumene dritter Art« auf, der das Verhältnis zur »Konfession« der Konfessionslosen dialogisch und missionarisch beschreibt. Sie zeigt die Möglichkeiten dieser Begrifflichkeit ­ und auch deren Grenzen, wenn es um mehr geht als um »Vorfeldpastoral« (119 f.), nämlich um lebendige Antwort von Menschen, die die Einladung Gottes erkannt haben.

Lesenswert ist ebenso der Beitrag von Hans-Joachim Sander, der sich kritisch mit dem zwangsläufigen Verhältnis von Gewalt und Religion in missionarischer Perspektive beschäftigt und gerade nicht von Mission abrät, wohl aber dringend zur freiwilligen Besetzung einer Ohnmachtsposition aufruft (121­145). Anregend sind auch die Aufsätze von Johann E. Hafner, der unterhaltsam das Spannungsfeld von individueller Spiritualität und kollektiver Religion bearbeitet und auf die Notwendigkeit hinweist, religiöse Sprachpflege zu betreiben, weil erst ein starkes Religionssystem starke Individuen hervorbringe (146­177), und von Eckhart Türk, der die konkurrierenden missionarischen Unternehmungen auf dem Markt der religiösen Möglichkeiten thematisiert (178­203). Gerade für den evangelischen Leser lehrreich sind die Bezüge auf Impulse aus Frankreich, besonders im Beitrag von Hadwig Müller (229­248). Müller zeigt, wie gerade die institutionelle Schwächung Mission als Beziehungsgeschehen neu in den Blick geraten ließ, wobei kritische Seitenblicke von der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen »Laien« und Klerus dort auf die nicht so erfreuliche deutsche Lage fallen. Kommunikationsdefizite (aber auch Defizite in der Analyse der »Exkulturation«) beklagt schließlich Rainer Bucher, der sich zum Innovationsbedarf für einen missionarischen Aufbruch äußert (249­282).

Einen Höhepunkt der Lektüre stellt die Auseinandersetzung von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz mit der postmodernen Philosophie dar. Sie sieht trotz der Verflüssigung alter Denkmuster und der »Abwesenheit des Einenden« offene Stellen im postmodernen Denken, vor allem in der Sehnsucht nach transzendent verbürgter Anwesenheit, auch wenn man nur im Sinne einer »theologia negativa« über sie sprechen könne, oder in Lyotards Rede vom »Ereignis« und vom »Erhabenen«. Der Leib, insbesondere der Schmerz, könne als Zeichen sinnhafter Anwesenheit verstanden werden. Hier meldet sich Wirklichkeit zu Wort, die nicht wegzudiskutieren ist, und sie erlaubt es, die christliche Botschaft neu zu erschließen.

Der Band ist gut zu lesen, anregend und eindrucksvoll ökumenisch in der Wahrnehmung der Entwicklungen. Die Lösungsansätze sind so plural, wie die missions- und religionstheoretische Debatte eben ist. Der stetige Bezug auf »Zeit zur Aussaat« bindet die Texte zusammen, ist aber gelegentlich ermüdend redundant. Wie immer bei Sammelbänden ist die Qualität der Beiträge unterschiedlich, auch die argumentative Kraft schwankt. Wirklich hilfreich erscheint vor allem der Beitrag von Gerl-Falkovitz, das interessante Thema von Türk führt letztlich zu dem nicht recht überzeugenden Versuch, das Gemeinsame der Hochreligionen gegenüber anderen missionarischen Anbietern zu benennen. Die Universalität der Christusbotschaft ist jedoch widerständig gegenüber einem Ethos, das jede Religion nur zu je ihrer Wahrheit finden lassen möchte.