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Ausgabe:

Juni/2006

Spalte:

801 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Mildenberger, Irene, u. Wolfgang Ratzmann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Liturgie mit offenen Türen. Gottesdienst auf der Schwelle zwischen Kirche und Gesellschaft.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2005. 181 S. 8° = Beiträge zu Liturgie und Spiritualität, 13. Kart. Euro 16,80. ISBN 3-374-02284-7.

Rezensent:

Thomas Klie

In vielen Sammelbänden, in schmalen zumal, rechtfertigen oft nur wenige Beiträge den Erwerb des betreffenden Buches. Im vorliegenden Band sind es unzweifelhaft die beiden programmatischen und von den Herausgebern umsichtig als wechselseitige Replik arrangierten Aufsätze von Bieritz und Gräb. Zu konträr sind die jeweiligen praktisch-theologischen Programme, als dass hier eine konsente Sicht auf liturgische Wirklichkeiten erwartbar wäre. Die Streitlinie verläuft hier jedoch nicht, wie Gräb (31) wähnt, zwischen älterer dogmatisch-deduktiver und jüngerer hermeneutisch-empirischer Wahrnehmung von Liturgie; diese praktisch-theologischen Schlachten sind selbst in der Liturgik längst geschlagen. Hier treffen vielmehr ein ostdeutsch-gemeindeorientiertes und ein westdeutsch-kulturprotestantisches Gottesdienstverständnis aufeinander, aber hier liegen eben auch ­ und das macht die Kontroverse wirklich lesenwert ­ Semiotik und Hermeneutik, dramaturgische Werktreue und theatrale Wirkung sowie, zugespitzt, Guardinis Geist der Liturgie und Schleiermachers Ästhetik im Widerstreit.

Die sich aus dieser komplexen Disputlage ergebenden Vorwürfe, Anamnesis-Defizite und affirmative Kulturhermeneutik (Bieritz vs. Gräb) bzw. der ­ bei Gräb inflationäre ­ »Supranaturalismus«-Verdacht und römische Avancen (Gräb vs. Bieritz), machen die Kontroverse in Dichte und Argument zu einem liturgietheoretischen Polemik-Paradigma. Dagegen wirkt der zwar durchaus pointierte Beitrag von Krötke (»Grenzen mit offenen Türen«) mit seinem anti-liberalen Skopus und seinem dogmatischen Plädoyer für gottesdienstlich gestaltete »Wege des Verstehens« im Konzert liturgiewissenschaftlicher Stimmen seltsam erratisch. Auch die folgenden Aufsätze zeigen einmal mehr, dass nicht alles gegenseitige Bezogenheit bezeugt, was zwischen zwei Buchdeckeln zusammengefasst ist. Das Theorieniveau und die jeweils verhandelten Gegenstände sind zu disparat, um sie unter der gewiss anspruchsvollen Überschrift »Schwelle« zu subsumieren: Wuggazer berichtet von einer katholischen »Stufenfeier« (Täuflinge werden von der ganzen Gottesdienstgemeinde in die Kirche begleitet), Geyer beleuchtet kenntnisreich den Funktionswandel der Leipziger Nikolaikirche vom Ort der montäglichen Friedensgebete hin zur traditionellen »Citykirche«, Reitz-Dinse formuliert »liturgiewissenschaftliche Impulse für die Citykirchenarbeit« (Agenda einer liturgieaffinen Wahrnehmung verschiedener gesellschaftlicher Akteure), Friedrichs geht der Frage nach, welche Formen die Kirche in Katastrophenfällen (z. B. Amoklauf im Erfurter Gutenberg-Gymnasium) bereitstellen kann, das »Unbegreifliche« öffentlichkeitswirksam zu deuten, Schneider-Flume stellt »Überlegungen zur Gedenkfeier für die Verstorbenen der Anatomie in Leipzig« an (ergänzt durch eine exemplarische Ansprache/Predigt) und Pointek zeigt die Genese einer ökumenischen Feier zum Valentinstag auf. Wenn Ratzmann als Mitherausgeber bilanzierend (171­179) alle Beiträge unter Krötkes Generalthese stellt, wonach die derzeit notwendige liturgische Öffnung der »Darstellungskraft der christlichen Botschaft im atheistischen Klima« geschuldet ist und deshalb zum »Gegenstand eines außerordentlichen Gestaltungswillens der Kirche« (66 f.) werden muss, dann bleibt diese dialektisch-dualistische Deutung eher bescheiden hinter den zuvor eröffneten Diskursen zurück. Denn hier deuten sich viel brisantere Einträge in die Agenda liturgiewissenschaftlicher Theoriebemühungen an: grundsätzliche Fragen nach zivilreligiös akzeptablen Formen, nach passablen Performanzen des Evangeliums im öffentlichen Raum und nach angemessenen Reaktionen auf die sublimen Kasualisierungsnötigungen der ausgehenden Moderne.