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Ausgabe:

Juni/2006

Spalte:

799–801

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hansen, Kai

Titel/Untertitel:

Evangelische Kirchen in ländlichen Räumen. Ein Rundblick über Geschichte und Gegenwart.

Verlag:

Schenefeld: EB-Verlag 2005. 487 S. m. Abb. 8°. Kart. Euro 22,80. ISBN 3-936912-33-5.

Rezensent:

Eberhard Winkler

Der Vf. dieser Kieler Dissertation von 2004 konstatiert, dass das Thema seiner Arbeit »in der jüngeren Praktischen Theologie kaum eine Rolle gespielt zu haben scheint« (36). Dem Dreischritt von »Wahrnehmen, Orientieren und Handeln anleiten« folgend will er zur genauen Wahrnehmung des Verhältnisses von Kirchen und ländlichen Räumen beitragen, um auf der Grundlage der Kirchentheorie seines Lehrers R. Preul praktisch-theologische Leitlinien dafür zu gewinnen, »wie sich evangelische Kirchen in ländlichen Kontexten (durchaus unterschiedlich und vielfältig) gestalten lassen, um ihrem Wesen als Kirche Jesu Christi zu entsprechen« (63).

Das Buch ist übersichtlich gegliedert und gut lesbar. Das 1. Kapitel (»Überblick«, 13­46), bietet einige Beispiele dafür, »wie Landgeistliche die Kirche im Dorf wahrnehmen«. Hier werden bereits die erheblichen Situationsunterschiede im ländlichen Raum deutlich, zumal der Vf. auch Erfahrungen aus Vorpommern und Brandenburg berücksichtigt.

Das 2. Kapitel (»Durchblick«, 47­75) skizziert grundlegende Klärungen der im Thema enthaltenen Begriffe. Wesen und Auftrag der evangelischen Kirche werden auf der Basis reformatorischer Ekklesiologie beschrieben und die Kirche wird als Institution in der Gesellschaft interpretiert. Der Raumbegriff erweist sich in sozialwissenschaftlicher Sicht als Konstrukt. »Stadt und Land sind nicht mehr Gegensätze, sondern vernetzte und verflochtene Variationen menschlicher Lebensräume« (68). Ländliche Räume unterscheiden sich nicht nur geographisch, sondern in jedem Dorf finden sich unterschiedliche Sozialräume und Lebenswelten.

Gab es je einen einheitlichen ländlichen Raum? Dieser Frage geht das 3. Kapitel nach: »Rückblick: Evangelische Kirchen und ländliche Räume in der Geschichte« (77­233). Die kirchlichen und religiösen Entwicklungen werden unter Berücksichtigung der Sozial-, Kultur- und Agrargeschichte sowie der Volkskunde in ihren tiefgehenden Veränderungen auf dem Weg von der Frühen Neuzeit in die Moderne geschildert. Imponierend ist die Fülle der verarbeiteten Literatur. Mit Recht betont der Vf. die erheblichen lokalen Unterschiede. Der Spagat von Differenzieren und Herausarbeiten des allgemein Gültigen kann bei dem Umfang des Stoffes nicht immer gelingen. Trotz einiger Fragezeichen, die im Detail angebracht sind, ist dem Ergebnis zuzustimmen, dass es die »gute, alte Zeit« auf dem Lande nicht gab. Die These, die Kirchengemeinde habe über Jahrhunderte »als eine dorffremde Institution« gegolten, erscheint jedoch als zu pauschal und weckt die Frage, ob das Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen der Kirche und den Menschen sich in den Städten günstiger gestaltete als auf dem Lande.

Im 4. Kapitel richtet sich der Blick auf »Evangelische Kirchen und ländliche Räume in der Gegenwart« (235­409). Hinsichtlich der Strukturen und Strukturentwicklungen (Raumentwicklung und -ordnung, Bevölkerungsentwicklung, Wirtschafts- und Erwerbsstruktur, Infrastruktur) lautet die Prognose, dass die ländlichen Räume sich weiter auseinander entwickeln werden. Auch im Blick auf Lebensweisen und soziale Beziehungen geht der Vf. mit Recht von einer enormen Vielfalt aus. Er findet sie in den Spannungen zwischen Ortsgebundenheit und Mobilität, Dorfgemeinschaft und Individualisierung, Traditionspflege und Modernisierung, Konzentration auf das Dorf und Außenorientierung. Spezifisch ländliche Lebensstile sind nicht mehr nachweisbar. Die Vielfalt der ländlichen Lebenssituationen und die Ungleichzeitigkeit der Modernisierungs- und Individualisierungsprozesse werden am Beispiel der Generationen älterer und junger Menschen aufgezeigt. Für die Kirche ergibt sich eine neue Moderatorenrolle, in der sie sich »bemüht, das Neben- und zum Teil Gegeneinander der unterschiedlichen Lebensstile zu einem friedlichen Miteinander zusammenzuführen« (314).

Während die vierte EKD-Mitgliedschaftsuntersuchung nicht mehr zwischen Stadt und Land unterscheidet, will der Vf. belegen, »dass die städtische oder ländliche Struktur eines Lebensraumes sich doch (noch) massiv auf die Einstellungen der Menschen, die in ihm wohnen, zu Religion und Kirche auswirkt« (336). Entsprechende Befragungen ergaben in der Landbevölkerung »kirchlichere« Antworten als bei Großstädtern. Allerdings schrumpfen die traditionell orientierten Gruppen und Milieutypen, das Milieuprofil ländlicher Kirchlichkeit ändert sich stetig. Es bleibt ein ausgeprägter Traditions-, Heimat- und Ortsbezug: »Ländliche Sozialstrukturen binden die Kirche fester ein als städtische« (386). Die Kirchengebäude spielen auf dem Lande eine größere Rolle als in der Stadt. Spezifisch ländliche Kirchlichkeit findet der Vf. bei einem Teil der kirchlichen Feste und in der Renaissance der Mundart, besonders des Plattdeutschen.

Ein klarer Unterschied zwischen Stadt und Land besteht hinsichtlich der persönlichen Beziehungen zwischen Pfarrer(in) und Bevölkerung. Die pastorale Sonderrolle als Repräsentant der Kirche zeigt sich noch stärker als in der Stadt, die Kontakthäufigkeit und der Bekanntheitsgrad sind höher. Der Pfarrer ist besser in die Dorfgemeinschaft integriert als in früheren Jahrhunderten. Zu fragen ist, ob das noch in den ostdeutschen Großparochien gilt, in denen ein Pfarrer fünf oder mehr ehemalige Pfarrstellen verwaltet. Zutreffend stellt der Vf. fest, dass außer- und überparochiale Strukturen für die meisten Kirchenmitglieder auf dem Lande nahezu irrelevant sind, »zumal sie die durch sie angestrebte kirchliche Vernetzung kaum wahrnehmen« (403). Die Dominanz des herkömmlichen Parochialsystems stellt der Vf. in Frage, und er plädiert für regionale Kooperationen oder ganz neue Strukturen, ohne den auf dem Lande nötigen Ortsbezug der Kirchen zu gefährden. Entsprechende Veränderungsprozesse müssen aber von den Beteiligten selbst gewollt werden. Dazu ist eine ekklesiologisch inspirierte Bewusstseinsbildung in den Gemeinden notwendig.

Im abschließenden 5. Kapitel (»Ausblick: Anregungen, Richtlinien und Visionen«, 411­442) fasst der Vf. seine Befunde und Empfehlungen zusammen. Seine umsichtige Aufnahme verschiedenster einschlägiger Forschungsergebnisse hilft dazu, die ländlichen Räume und Menschen adäquat wahrzunehmen, nicht zuletzt, indem er immer wieder die notwendige Differenzierung anmahnt. Orientierungshilfen für notwendiges Handeln müssen sich von theologischen Kriterien leiten lassen. So sehr die Kirche auf die Menschen zuzugehen und an ihrem Leben teilzunehmen hat, so klar muss der christliche Glaube als Leitkategorie dienen. Die Kirche soll sich für alle Lebensstile und Milieus öffnen, sie aber auch relativieren und möglichst integrieren. Es entspricht der Pluralität des Gegebenen, dass die praktischen Konsequenzen nur sehr begrenzt konkret gezogen werden können. Wer sich für das kirchliche Leben in ländlichen Räumen interessiert, erhält eine Fülle nützlicher Informationen. Bei Verzicht auf schon Bekanntes und auf manche Wiederholung könnte das Buch mit hundert Seiten weniger auskommen, und mancher Landpastor würde sich vielleicht nicht vom Umfang dieses gehaltvollen Werkes abschrecken lassen, seinen Wert für die eigene Arbeit zu entdecken.