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Ausgabe:

Juni/2006

Spalte:

797–799

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Dürr, Walter M.

Titel/Untertitel:

Christliche Gemeinschaft in der Spannung von Sammlung und Sendung. Eine praktisch-theologische Arbeit über die JAHU-Bewegung und ihre Reich Gottes-Theologie im Kontext gesellschaftlicher und kirchlicher Herausforderungen.

Verlag:

Fribourg: Academic Press 2004. XX, 404 S. gr.8° = Praktische Theologie im Dialog, 25. Kart. Euro 38,00. ISBN 3-7278-1490-X.

Rezensent:

Johannes Zimmermann

»Der Name ðJahuÐ steht für ðJabärghuusЫ (28), die »Jahu-Bewegung« ist eine charismatisch geprägte landeskirchliche Gemeinschaft im schweizerischen Biel. Walter M. Dürr leitet die »Jahu-Bewegung« und reflektiert über sie im Wissen um das »Dilemma zwischen Identifikation und Distanz« (19). Begleitet wurde seine Dissertation vom römisch-katholischen Pastoraltheologen Leo Karrer in Fribourg. Schon diese ökumenische Konstellation macht neugierig. Karrer selbst gesteht in seinem Vorwort eine »Berührungsscheu« auf katholischer Seite gegenüber der evangelikalen Bewegung und den Freikirchen ein und verweist zugleich auf Einflüsse und Parallelen in den basiskirchlichen Gemeinden (XIII).

Die »Spannung von Sammlung und Sendung« und der Bezug zum »Reich Gottes« (von D. gegenüber »Gottes Herrschaft« bevorzugt) bilden den thematischen Schwerpunkt. Grundlegend ist dabei für D.: »Nicht die Absonderung ist der Zweck der Sammlung, vielmehr der Dienst an der Welt« (2). Deshalb fragt er: »Ist die ðJahu-BewegungÐ ein Rückzugsmodell ins Ghetto oder eine Sammelbewegung für Ausrüstung und Sendung?« (8)

Im zweiten Kapitel wird die »Jahu-Bewegung« vorgestellt. Sie entstand Mitte der 1970er Jahre als Jugendgruppe der evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Biel-Mett. Nach raschem Wachstum erfolgte in den 1980er Jahren eine längere Phase der Zusammenarbeit mit Jugend mit einer Mission. In den 1990er Jahren kühlte nach einem Wechsel im Pfarramt das Verhältnis zur Kirchengemeinde merklich ab, es kam zur »Gemeindewerdung« (32) der »Jahu-Bewegung«.

Der Sammlung dienen vor allem »Gottesdienst und Lebensgruppe« als »die zwei Säulen des Innenlebens der Gemeinschaft« (40). »Für die ðJahu-BewegungÐ soll die Lebensgruppe eine kleine Hausgemeinde sein, die Raum für verbindliche Gemeinschaft gibt« (44). Im Blick auf die Sendung nennt D. unter anderem das »Institut für biblische Reformen« und die Schulkooperative Biel.

D. entfaltet die »Reich Gottes-Theologie« der »Jahu-Bewegung« (2.2) und setzt sich an späterer Stelle mit kritischen Anfragen an die »Jahu-Bewegung« auseinander (Kapitel 10). Er rechnet die »Jahu-Bewegung« den »neuen geistlichen Bewegungen« zu (Kapitel 3), in denen er eine »Antwort auf gesamtkirchliche Suchbewegungen« (5) sieht. Aber auch das »Konfliktpotential zwischen Institution und Erneuerungsbewegungen« (121 ff.) kommt unter Einbezug eigener Erfahrungen zur Sprache.

In den folgenden Kapiteln skizziert D. weitere »Kontexte« der »Jahu-Bewegung«: den »gesamtgesellschaftlichen Kontext« (Kapitel 4) mit soziologischen, philosophischen und kulturgeschichtlichen Streiflichtern, dann unter Bezug auf K. Gabriel, F.-X. Kaufmann, B. Hume und L. Newbigin die sich aus dem Wandel der Situation ergebenden Herausforderungen für das Christentum und die Kirchen (Kapitel 5). Vier weitere Kapitel (Kapitel 6­9) befassen sich mit der Reich Gottes-Thematik: Auf die Frage nach der Möglichkeit, das Evangelium als »öffentliche Wahrheit« in der entfalteten Moderne zu verkündigen (Kapitel 6), folgt ein exegetisches Kapitel zur Reich Gottes-Verkündigung Jesu und dem urchristlichen Reich Gottes-Verständnis (Kapitel 7). Exemplarisch für »Konkretionen und Entfaltungen Š in der jüngeren Theologiegeschichte« zieht D. in Kapitel 8 von den beiden Blumhardts aus zwei Linien: die erste über den religiösen Sozialismus hin zur Befreiungstheologie. Die zweite Linie zur »heilsgeschichtlichen Theologie« von O. Cullmann lässt sich nach D. »bis in die Gegenwart der charismatischen Erneuerungsbewegung hinein verlängern« (266). Eine Zusammenfassung der »Reich Gottes-Kriterien« (Kapitel 9) schließt diesen Teil ab. Die Kontext-Wahrnehmungen und die »Reich Gottes-Kriterien« werden in den »Handlungsimpulsen für die Erneuerung von Kirche und Welt« (Kapitel 11) miteinander verbunden.

In diesen Kapiteln steckt viel Fleißarbeit. Es würde der Arbeit und ihrer Intention nicht gerecht, sie als entbehrlich abzutun und zu monieren, dass kaum Bezüge zur »Jahu-Bewegung« vorhanden sind. Man kann die Arbeit insgesamt als eine Art Rechenschaftsablegung verstehen. D. will von seiner Ausgangsfrage her zeigen, dass der Akzent auf der Sammlung nicht notwendig in die Sektenexistenz einer Gruppe mit hoher Nestwärme führen muss, sondern die Sendung zum Ziel hat. Diese eröffnet einen weiten Horizont, führt zu einer aufmerksamen Wahrnehmung kirchlicher und gesellschaftlicher Herausforderungen und vor allem zu einer Ausrichtung auf das »Reich Gottes« als dem weitest möglichen und für jede christliche Gemeinde konstitutiven Horizont.

Auch wenn der praktisch-theologische Bezugsrahmen von D. fast ausschließlich aus römisch-katholischen Autoren besteht, sind die von D. erörterten Themen auch für die evangelische Praktische Theologie von Interesse, insbesondere das Gegenüber von »institutioneller« Kirche und »neueren geistlichen Gemeinschaften«. D. beginnt mit der »Hypothese Š, dass die Bewegungen und die Großkirchen sich gegenseitig nötig haben und sich gegenseitig bereichern könnten« (10).

Den Beitrag der Kirchen sieht D. vor allem in einer öffentlichkeitswirksamen Beteiligung am gesellschaftlichen Dialog (378 f.), den der Bewegungen in einer personalen Aneignung des Glaubens »statt blosser Sozialisation in den Glauben«, in der Entwicklung neuer Gemeinschaftsformen und in der »Aufwertung der Laien« (220 f., vgl. 370).

An der Arbeit von D. ist aber auch ein neues Stadium des Verhältnisses Kirche ­ geistliche Bewegungen ablesbar: Neuere geistliche Bewegungen wie die »Jahu-Bewegung« unterliegen selbst dem Prozess der Institutionalisierung, der über eigene Organisationsformen bis hin zur »Gemeindewerdung« führen kann. Ist die »Jahu-Bewegung« überhaupt noch eine »Bewegung«? Dadurch verschiebt sich das Verhältnis zu den Landeskirchen vom Miteinander hin zum Nebeneinander. Vergleichbare Tendenzen gibt es vielerorts im Bereich der landeskirch- lichen Gemeinschaften in Deutschland. Ein »minimaler Dialog zur ðinstitutionellenÐ Kirche« (350) jedoch wird kaum ausreichen, um das Erneuerungspotential der geistlichen Bewegungen für die Landeskirchen fruchtbar zu machen.

D. stellt selbst die Frage, ob es sich bei der »Jahu-Bewegung« um eine landeskirchliche Gemeinschaft oder »nur« um eine Freikirche handelt (350). Auch wenn »die ðJahu-BewegungÐ sich selbst nicht als ðFrei-KircheÐ verstehen kann, obschon sie sich durchaus als eine freie Gemeinde sieht« (379), ist zu fragen, wie weit eine »ðfaktische Anerkennung und minimale ZusammenarbeitÐ mit dem Synodalrat der reformierten Berner Kirche« (350) die »landeskirchliche« Identität der »Jahu-Bewegung« gewährleisten. »Die ðJahu-BewegungÐ hat heute als eigenständige Laienbewegung keinen eigenen ordinierten Pfarrer mehr, der die Sakramente spendet« (43). Taufen werden nach der Ordnung der Kirche von ordinierten Pfarrern vollzogen (43), aber schon beim Abendmahl sieht die Praxis anders aus. In ekklesiologischer Hinsicht sehe ich noch Reflexionsbedarf, der weite Horizont des »Reiches Gottes« ersetzt nicht die Frage nach der Ökumenizität und der konkreten Einbindung in die ecclesia universalis.

Insgesamt eröffnet die Arbeit von D. einen Dialog, der es verdient, auf akademischer und kirchenleitender Ebene ebenso wie vor Ort in den Gemeinden weitergeführt zu werden.