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Ausgabe:

Juni/2006

Spalte:

795 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Ulrich, Hans G.

Titel/Untertitel:

Wie Geschöpfe leben. Konturen evangelischer Ethik.

Verlag:

Münster: LIT 2005. 747 S. gr.8° = Ethik im theologischen Diskurs, 2. Kart. Euro 59,90. ISBN 3-8258-5510-4.

Rezensent:

Martin Hailer

Der Vf. hat in den letzten Jahrzehnten neben einer langen Reihe von Einzelbeiträgen vor allem zwei Sammelbände zur Tradition und zur gegenwärtigen Gestalt evangelischer Ethik vorgelegt, die durch minutiöse Einleitungen und Bibliographien die Diskussionslagen erschließen. Wer nun meint, mit dem vorliegenden Band das »Konzept« des sich ansonsten mit dergleichen zurückhaltenden Vf.s präsentiert zu bekommen, liegt richtig und falsch zugleich. Richtig, da in der Tat pointierte Positionen vorgetragen und durchgeführt werden. Falsch, da man in diesem Buch ein »Konzept« oder ein »Programm« vergeblich sucht. Der Vf. ist vielmehr der Meinung, dass evangelische Ethik eine je aufs Neue zu beginnende Suchbewegung ist, die erkundet, wie Menschen sich selbst und andere als Gottes Geschöpfe wahrnehmen, in welchen Konstellationen sie sich damit befinden und welche Handlungsoptionen dadurch schon konturiert sind. Ethik wird verstanden als eine wahrnehmende Disziplin (85), die die Erschlossenheit der Welt als Welt des Geschöpflichen und das dieser Erschlossenheit gemäße Verhalten beschreibt. Es handelt sich deshalb um eine Ethik, die auf Normen weitgehend verzichtet und die nicht theorieförmig werden kann, weil sie jeweils im Ausschreiten der Felder besteht. Einleitung (17­81): Ethik ist »Rechenschaft von der Existenzform, in der präsent wird, was wir Menschen von Gott begründetermaßen erhoffen« und so »explorative Rechenschaft vom geschöpflichen Leben« (40, vgl. 455 mit dem Stichwort Heiligung). Ihr Subjekt steht also nicht einfach vor Augen, sondern muss gefunden werden, und zwar in der »Geschichte einer Befreiung und einer Neuschöpfung« (61).

Teil A (83­275) ist der Frage gewidmet, wer dieses Subjekt der Ethik ist. Vom Menschen als Subjekt der Ethik ist zureichend nur da die Rede, wo nicht mit einer Wesensbestimmung oder einem Verantwortungsbegriff begonnen wird, sondern dies »hineingenommen [wird] in das Zeugnis von Gottes Geschichte mit dem Menschen« (158). Die neuzeitliche Grundfigur des moralischen Subjekts als Erkenntnis- und Verantwortungszentrum muss demgegenüber als Verkürzung und/oder als Hybris verstanden werden. Die Aufgabe der Ethik kann dann auch nicht eine Theorie der Moral sein, die fragt, wie »man« leben soll, sondern besteht im Ausschreiten eines Ethos, welches lernt, wie wir Geschöpfe bleiben und immer werden (174.186.216). Dies zielt auf eine Berufsethik im Sinne der Berufung an den jeweiligen Ort vor Mitmensch und Gott (252).

Teil B (279­438): Wenn Ethik nicht Normen oder Strebensziele beschreibt, sondern der Entdeckung des geschöpflichen Lebens gewidmet ist, so müssen Punkte und/oder Strukturen namhaft gemacht werden, an denen dieses Leben zur Entfaltung kommt. In diesem Sinne greift der Vf. die Tradition der Ordnungen oder Mandate wieder auf und versteht sie als die »Orte (Existenzformen, Ordnungen, Institutionen) geschöpflichen Lebens« (306). In erster Näherung sind es die lutherischen drei, also ecclesia, oeconomia und politia. Diese sind nicht als unveränderliche Setzungen zu verstehen, sondern als diejenigen Orte, an denen »Menschen erproben dürfen, was ihnen ­ in der Verheißung und im Gebot Gottes ­ zukommt« (334). Die Institutionen sind also erst in ihrer eschatologischen Textur richtig verstanden (388 u. ö.). Die drei Status werden in diesem Teil zum ersten Mal abgeschritten und im letzten Teil des Bandes exemplarisch diskutiert.

Teil C (439­678) beginnt mit einem bündigen programmatischen Abschnitt (441­470), der sich auch als einführende Separatlektüre eignet. Danach wird zuerst über Wirtschaftsethik gehandelt und dann eine eingehende Debatte um den philosophischen Liberalismus angefügt (527­574). Hier geht es besonders um das Gespräch mit J. Rawls¹ großem Entwurf, wobei der Vf. ein spannungsvolles Gegenüber aus Allgemeingültigkeit beanspruchender Moral einerseits und dem Ethos des Lebens zeichnet (pointiert: 626 f.). Ferner geht es um die Termini Gerechtigkeit und Menschenwürde, schließlich um Bioethik (624­678, im Gespräch mit J. Habermas). Bemerkenswert ist hier u. a. der Argumentationsgang zur Ökonomie. Der Vf. führt vor, dass wirtschaftsethische Ansätze oft in die Gefahr geraten, die Moral selbst in Ökonomie zu transformieren, weil sie die Moral als das allseitig Zustimmungsfähige und damit als das oberste Gut am Markt anbieten (495.499). Demgegenüber ist die Frage neu zu gewinnen, was dem Menschen zukommt (499), was auf das Bild eines kooperativen Wirtschaftens hinaus läuft (513 ff.). Literaturverzeichnis, Schriftstellen-, Personen- und Sachregister schließen den Band ab.

Der Band ist geprägt von intensiven Debatten und (Selbst-) kritikfähigkeit, die noch auf den letzten Seiten sagt, die »Aufgabe des Verstehens« (662, i. O. herv.) allenfalls angebahnt zu haben. Entsprechend wenig »Position« ist zu lesen, vielmehr die performative Aufforderung, das angebahnte Verstehen selbst zu vollziehen. Die These, dass es nicht ein Konzept evangelischer Ethik geben kann, sondern in der Existenz der Christinnen und Christen je ethisch zu lernen ist, wird konsequent und mit reichen diskutierenden Bezügen entfaltet.

In der gegenwärtigen Debatte steht der Entwurf in gewisser Nähe zu dem von Johannes Fischer (Theologische Ethik, Stuttgart 2002). Sie teilen den Beginn beim Erkunden eines Erschlossenheitsraums. Die Differenzen beginnen allerdings bei der Bestimmung dieser Erschlossenheit. Während für Fischer das Stichwort »Geist der Liebe« bestimmend ist, versucht der Vf. durch die Bindung des Geistes an das Wort und immer erneute biblisch-theologische Erkundungen hier konkreter werden zu können (programmatisch: 80. 142), was sich ­ wie aus anderen Publikationen der beiden zu lernen ist, etwa zur Bioethik ­ auch in deutlich unterschiedlichen materialethischen Optionen zeigt. Aus der Tradition evangelischer Ethik im 20. Jh. ist neben Hans Iwand (55 u. ö.) Ernst Wolf vermöge seiner Subjekt- und Institutionentheorie der engste Gesprächspartner (461 u. ö.). In weiterer Perspektive zeigt sich eine Nähe zur aristotelischen Tradition, indem der Vf. davon spricht, dass die Exploration der Lebensform Geschöpflichkeit ohne Gewöhnung und Lernen nicht zu haben ist, und in diesem Sinn den Ethos-Begriff verwendet (69 f.140.226.555­562 u. ö.). Die klassische Aristoteles-Abstinenz evangelischer systematischer Theologie sollte das aufmerksam registrieren.

Zu diskutieren wird ferner u. a. der ekklesiologische Aspekt sein: Ist dies eine vom Gottesdienst her gedachte Gemeindeethik (65.610 u. ö., aber ohne kommunitaristisches Selbstverständnis, vgl. 136 f.315), die demnach als Kritik volkskirchlicher Normalität gelesen werden muss, oder können die verschiedenen Wirklichkeitsformen christlicher Existenz noch anders in den Blick gerückt werden? Die gelungene Destruktion der geläufigen Rede vom ethischen Subjekt setzt Diskussionsbedarf frei.