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Ausgabe:

April/1998

Spalte:

404 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Simon-Ritz, Frank

Titel/Untertitel:

Die Organisation einer Weltanschauung. Die freigeistige Bewegung im Wilhelminischen Deutschland.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1997. 259 S. gr.8° = Religiöse Kulturen der Moderne; 5. Kart. DM 148,­. ISBN 3-579-02604-6.

Rezensent:

Kurt Nowak

"Ob wir jetzt am Eingang einer großen religiösen Crisis stehen, wer vermag das zu ahnen?" Diese Frage des schweitzer Historikers Jacob Burckhardt stand am Anfang einer Entwicklung, in welcher die "Zukunft der Religion" zum kirchlichen Dauerthema und zugleich zum Ansatzpunkt für neue Weltanschauungsentwürfe wurde (op. cit. 17). Die Krise des Kirchenchristentums rief freigeistige Weltanschauungsproduzenten auf den Plan, die für den säkularisierten Staat und die säkulare Gesellschaft kämpften, dabei freilich selber nicht selten in religiöse Ansprüche einmündeten (inklusive einer ersatzreligiösen Fest- und Feierkultur). Die geschichtswissenschaftliche Dissertation von Frank Simon-Ritz an der Universität Bielefeld (sie wurde "begleitet" von Jörn Rüsen und Lucian Hölscher [7]), beschäftigt sich mit der Organisations-, Ideen- und Sozialgeschichte der "freigeistigen Bewegung" im Wilhelminischen Kaiserreich. Der Vf. behandelt den "Bund freireligiöser Gemeinden Deutschlands", den "Deutschen Freidenkerbund", die "Deutsche Gesellschaft für Ethische Kultur", den "Deutschen Monistenbund" sowie das "Weimarer Kartell". Das "Weimarer Kartell" vereinigte seit 1909 die wichtigsten freireligiösen Vereine, Bünde und Gesellschaften unter seinem Dach.

Die Aufzählung der Bünde und Gesellschaften macht klar, daß der Vf. zwar relevante, doch bei weitem nicht alle freigeistigen Gruppierungen behandelt. Beispielsweise fehlen Friedrich Langes "Deutschbund", die Goethe-Bünde, der von Avenarius gegründete "Dürerbund" und viele weitere Organisationen und Personen. Die Gründe für diesen reduktionistischen Zugriff werden nicht näher erläutert. Sollten sie im Versuch der Konzentration auf jene Weltanschauungsbewegungen liegen, die ihre Legitimation hauptsächlich in den Naturwissenschaften und deren vermeintlichen gesellschaftstheoretischen und kultursoziologischen Konsequenzen fanden? Der Anspruch, "die" freigeistige Bewegung zu behandeln, ist überzogen. Unbefriedigend sind auch die Auskünfte des Vf.s über "Quellenlage und Forschungsstand" (25-33).

Die apodiktische Behauptung, Archivalien stünden zu den vom Vf. untersuchten Organisationen "in nennenswertem Umfang" nicht mehr zur Verfügung" (26), bedarf der zumindest partiellen Korrektur. Beim "Deutschen Monistenbund" hätte sich die Benutzung der Haeckel-Archivalien in Jena und des Wilhelm-Ostwald-Archivs in Großbothen (Sachsen) nahegelegt. Ein Historiker, der den Anspruch erhebt, "sozial- und gesellschaftsgeschichtliche Fragen miteinander zu verbinden" (23), wäre nach Ansicht des Rez. besonders dringlich genötigt gewesen, die archivalische Überlieferung zu erschließen. Man muß es schon als ein Factum eigener Art bezeichnen, daß die scientific community mit dieser historischen Dissertation eine Studie ohne jede archivalische Unterfütterung vorgelegt bekommt.

Als ein kärgliches Feigenblatt zur Bedeckung der archivalischen und sozialgeschichtlichen Blöße muten die beiden Tabellen ­ die einzigen im ganzen Buch ­ auf S. 254 f. an: Übersichten über die Mitgliedsgemeinden des "Bundes freier religiöser Gemeinden Deutschlands" von 1903 und der Mitgliedervereine des Deutschen Freidenkerbundes von 1896/97. Ebenfalls mit Schmerz zu registrieren ist die mangelnde Aufarbeitung des Forschungsstandes. Wie ist es zu rechtfertigen, wenn ­ um beim "Deutschen Monistenbund" zu bleiben ­, weder auf Eckard Daser (Ostwalds energetischer Monismus. Diss. phil. Konstanz 1980) noch auf Wolfgang Mattern (Gründung und erste Entwicklung des Deutschen Monistenbundes 1906-1918. Diss. med. Berlin 1983) hingewiesen wird? Noch unverständlicher ist die forschungsgeschichtliche Abblendung der Arbeiten Jochen-Christoph Kaisers, die der Vf. ­ ohne es hinreichend kenntlich zu machen ­ gleichwohl kräftig ausschlachtet. Selbst bei der Abkupferung einer Kapitelüberschrift aus Kaisers großem Freidenkerbuch zögerte er nicht (Kirchenaustritt als "Paradigma freigeistiger Aktion" [34]).

In den Grenzen, die sich der Vf. steckte, enthält die Studie eine tour d’horizon zu "Modernisierungskrise und Weltanschauungsstreit" (35-56), zwei Kapitel zur Organisations- und Wirkungsgeschichte der genannten Gruppen und Bünde (57-165; 166-213) und ein Kurzkapitel über "Die freigeistige Bewegung und der Erste Weltkrieg" (214-226). Im Ersten Weltkrieg schwenkten viele bürgerliche Freidenker in die Front der Nationalisten und Bellizisten ein.

Unstrittig ist die resümierende Beobachtung des Vf.s: "Man glaubte ..., mit der neuen Weltanschauung eine umfassende, allgemeinverbindliche Sicht der Welt festschreiben zu können. Darin, daß sie den Prozeß, den sie beförderten und als dessen Produkt sie zugleich erscheinen, zum Stillstand zu bringen hofften, bestand das eigentlich Unzeitgemäße oder Unmoderne jener Gruppierungen" (227). Nicht hinreichend deutlich ist in dem Resümee allerdings, daß Weltanschauung, im Singular verwendet, eine abstrahierende Fiktion ist. Wenn schon die organisatorische Heterogenität der freigeistigen Strömungen deren Kennzeichnung als "die" freigeistige Bewegung (zumal im reduzierten Blickwinkel des Vf.s) verbietet, dann sollte auch die Pluralität ihrer Weltanschauungen nicht in den entdifferenzierenden Singular "Weltanschauung" einmünden. Bildlich gesprochen: Ostwald war nicht Haeckel. Wem an einer Kurzfassung der Dissertation gelegen ist, sei verwiesen auf Frank Simon-Ritz: Kulturelle Modernisierung und Krise des religiösen Bewußtseins. Freireligiöse, Freidenker und Monisten im Kaiserreich. In: Olaf Blaschke/Frank-Michael Kuhlemann [Hrsg.]: Religion im Kaiserreich. Milieus ­ Mentalitäten ­ Krisen. Gütersloh 1996, 457-473 (Religiöse Kulturen der Moderne; Bd. 2).