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Ausgabe:

Juni/2006

Spalte:

785–788

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Graf, Friedrich Wilhelm

Titel/Untertitel:

Moses Vermächtnis. Über göttliche und menschliche Gesetze.

Verlag:

München: Beck 2006. 99 S. m. 22 Abb. 8°. Kart. Euro 12,00. ISBN 3-406-54221-2.

Rezensent:

Annette Weidhas

Prägnante, gut lesbare Bücher zu aktuellen Debatten mit solider Aufarbeitung historischer Hintergründe gibt es im deutschsprachigen Raum aus christlich-theologischem Umfeld nicht zu viele. Insofern dürfte es für jeden Programmleiter eines entsprechenden Verlags eine Freude sein, dererlei zur Hand zu nehmen, noch dazu, wenn das Bändchen so ansprechend aufgemacht ist wie das von Friedrich Wilhelm Graf.

G. eröffnet das Thema im »Introitus« mit einem Beispiel zum »Kopftuchstreit« und verdeutlicht nachfolgend in einem kurzen Kapitel, das mit »Methodencredo« überschrieben ist, seinen Herkunftsort: »Die Koordinaten meines Sehepunktes werden markiert durch liberalen Kulturprotestantismus, Kantischen Republikanismus und fanatismusresistenten Denkglauben, der, im gelingenden Fall, Selbstbegrenzung durch Reflexionssteigerung befördern kann.« (21) Da »nur liturgisch geordnetes Hören verhindert«, dass man die Gesetze Gottes bzw. der Frommen vergisst (21), sind die folgenden Kapitel überschrieben mit »III. Gesetzeslesung«, »IV. Zehn Gebote«, »V. Verfassungspredigt« und »VI. Segen«. Anmerkungen, Literaturhinweise und ein Bildnachweis beschließen den Band. In den drei Hauptkapiteln (III., IV., V.) entfaltet G. die lange Konfliktgeschichte zwischen »göttlichem« und »menschlichem« Gesetz vom Alten Israel an über das europäische Mittelalter bis hin zu den modernen säkularisierten und demokratisch verfassten Staaten in Europa und Nordamerika. Man erfährt dabei viel Wissens- bzw. Erinnerungswertes sowie mancherlei Kurioses (vgl. beispielsweise S. 60­64 den Streit um Dekalogstelen in zwei Gerichtsgebäuden in Kentucky oder vor dem Parlamentsgebäude in Austin, Texas). Das dahinter stehende Problem ist freilich ein ernstes.

Es kommt vor und wird auch immer wieder vorkommen, dass engagiert Glaubende unterschiedlicher Couleur in der sie außerhalb ihrer Glaubensgemeinschaft umgebenden Gesellschaft ethische Probleme sehen oder gar einen grundsätzlichen moralischen Verfall. Der Konflikt ist dann unausweichlich und kann nur durch eine möglichst klare Unterscheidung zwischen Glaube, Moral und Recht bewältigt werden. G. verweist in diesem Zusammenhang historisch u. a. auf reformierten »Moralterror« (32) und aktuell auf das katholische Scheidungs- und Abtreibungsverbot. Im Blick auf Letzteres zitiert er aus der Enzyklika «Evangelium vitae« von 1995, in der die Straffreiheit solcher »gegen das Leben gerichteten Praktiken« als besorgniserregendes Symptom »für einen schweren moralischen Verfall« gewertet wird. An dieser Stelle bleibt jedoch die Unterscheidung zwischen staatlichem Recht und christlicher Ethik erhalten, was G. damit begründet, dass das Denken in Naturrechts- und Sittengesetzkategorien der katholischen Kirche immer neue Kompromisse mit der Welt erlaube, »aber um den Preis fortwährender Ambivalenz« (30). Nun sind für evangelische Christen Naturrecht und Sittengesetz keine probaten Mittel, es fragt sich aber, ob die Lokalisierung des den evangelischen Christen bindenden Gesetzes »in gottunmittelbarer Subjektivität und Liebesgesinnung« (31) nicht auf andere Weise ebenso ambivalent ist.

Ein gewisses Maß solch ambivalenter Spannungen ist aber sogar wünschenswert, da es nur so zu gegenseitigen Korrekturen kommen kann. Wenn man bedenkt, dass eine große Zahl der deutschen evangelischen Christen, aber auch viele Atheisten oder Agnostiker, zwar das Recht auf Abtreibung unter gewissen Maßgaben befürworten, diese aber doch grundsätzlich und eher zunehmend problematisieren und für die katholische Haltung ein gewisses Verständnis zeigen (wenn auch nicht für deren Begründungen), scheint dieser Korrekturvorgang im Kontext unseres freiheitlichen Rechtsstaates einigermaßen zu funktionieren. Von dieser Überlegung her ist G. uneingeschränkt zuzustimmen, wenn er schreibt: »Sofern er [der freiheitliche Rechtsstaat] sich um seiner religiös-weltanschaulichen Neutralität willen nicht durch partikulare Wertkonzepte oder Tugendideale fundieren darf, die allein von den Angehörigen einer bestimmten Glaubensgemeinschaft oder Kulturwertsekte vertreten werden, darf er sich auch nicht auf prinzipielle Nicht-Religion festlegen. Freiheitsbedrohende Absolutsetzung eines Gruppenethos als allgemeinverbindliche Werteordnung droht nicht nur von seiten wertfanatischer religiöser Fundamentalisten, sondern auch von den intellektuellen Vorbetern eines Säkularitätscredos, die die funktionelle Unterscheidung von Rechtlichem und Gutem unterlaufen, indem sie von allen Bürgern ein Bekenntnis zu ihren ðprogressivenÐ Kulturwerten einklagen.« (77 f.)

Wünschenswert wäre nun, dass dieser Prozess des religiös-weltanschaulichen sowie ethischen Streites und seiner Bewältigung künftig noch stärker mit unseren muslimischen Mitbürgern in Gang käme. Mit diesem sich momentan zuspitzenden Konflikt beginnt G.s Buch und mit ihm endet das dritte Hauptkapitel. G. fragt zu Beginn, ob der Gleichheitsgrundsatz nicht gebiete, dass, wenn man den Musliminnen an einem öffentlichen Arbeitsplatz das Tragen des Kopftuches verbietet, man auch dem römisch-katholischen Pfleger im kommunalen Krankenhaus das Tragen eines Benedetto-T-Shirts vom Weltjugendtag oder dem jüdischen Praktikanten im Kindergarten das Halskettchen mit Davidstern untersagen müsste. Gegen Ende fragt er, ob nicht zweierlei Maß drohe, »wenn das Kopftuch als religiöses Symbol aus der Schule verbannt wird, Kippa und Ordenstracht hingegen als Insignien ðabendländischer KulturÐ getragen werden dürfen« (86 f.). Entsprechend dem im letzten Absatz Zitierten verneint G. diese Konsequenz und neigt zur Zulassung all dessen ­ in der Hoffnung, dass die »Frommen ... gerade im diskursiven Wahrheitsstreit der Religionen erkennen, daß nur autonomes staatliches Recht das freie, rechtsfriedliche Zusammenleben der Streitenden dauerhaft zu sichern vermag« (87).

In diese Hoffnung stimme ich gern ein, sehe aber doch einige Probleme in G.s Argumentation. Es gibt viele gute Gründe dafür, dass nicht nur französische, sondern auch deutsche Politiker im muslimischen Kopftuch etwas anderes sehen als in rein privaten Kettchen und T-Shirts. Und meines Wissens kommen Kippa und Ordenstracht an öffentlichen deutschen Schulen nicht oder nicht in relevantem Ausmaß vor. ­ Schulen in freier Trägerschaft stehen nicht zur Debatte.

Aber selbst wenn man den Unterschied zwischen rein individuellen Symbolen und gemeinschaftsverbindenden negiert, der erbitterte Widerstand gegen das Kopftuch hat doch einen ganz besonderen Grund: Es wird aus europäischer Sicht nicht in erster Linie als religöses Symbol wahrgenommen, sondern als kulturelles, das für die Unterordnung und sexuelle Diskriminierung von Frauen steht, und als politisches, das genau diese Kultur festschreiben möchte. Sonderbarerweise geht G. kaum auf dieses Problem ein, obwohl nicht nur der türkische Staat dieser Auffassung zuneigt, sondern auch keine kleine Zahl muslimischer Mitbürger. Nun möchte ich muslimischen Kopftuchverfechtern nicht die religiöse Dignität dieses Symbols absprechen, aber sofern sie sich in unsere Gesellschaft integrieren wollen, wäre es hilfreich, sie würden sich dem »Verdacht« auf die genannten (nachgeordneten?) Bedeutungen stellen und ihn auszuräumen suchen. Gar nicht hilfreich ist es dabei, wenn muslimische Eltern stattdessen nicht nur auf dem Kopftuch für ihre Töchter bestehen, sondern sie auch noch vom Sport- und Schwimmunterricht sowie von Klassenfahrten befreien lassen wollen. Und ganz problematisch wird es, wenn ein Leipziger Imam im deutschen Fernsehen erklärt, er dürfe aus religiösen Gründen keiner Frau auch nur die Hand geben. Auf irritierte Nachfragen hin hat er das weiter begründet, aber diese Begründung war eben keine religiöse, sondern zielte auf die Treue zu seiner Frau, der er geschworen hätte, niemals eine andere Frau zu berühren. Da diese Leipziger Familie schon länger in Deutschland lebt, muss man unterstellen, dass sie den Unterschied zwischen normaler Begrüßung und »Händchenhalten« kennt. Welcher Schluss auf das Frauenbild solcher Muslime legt sich dann aber nahe? Und was sollen Europäer von Männern halten, die noch nicht einmal eine andere Frau mit Handschlag begrüßen können, ohne sich der Gefahr oder dem Verdacht der Untreue auszusetzen?

Recht hat G. damit, dass uns die muslimischen Einwanderer teilweise unsere eigene europäische Geschichte vor Augen führen. Nur ist das gerade kein Grund dafür, plötzlich wieder Verhaltensformen zu akzeptieren, die nach jahrhundertelangen, teilweise schweren Auseinandersetzungen wenigstens im öffentlichen Bereich weitgehend überwunden wurden. Freiheitlich-demokratische Gesellschaften müssen auf der rechtlichen und damit auch auf der sexuellen Gleichberechtigung von Frauen bestehen, daran wird kein Weg vorbeiführen. Im Gegenzug bin ich gern bereit, die allgegenwärtige mediale Sexualisierung von Frauen, längst aber auch von Männern, in unserer Gesellschaft zu kritisieren, die oft nicht nur dem guten Geschmack zuwiderläuft. Zum Menschsein gehört, dass die Angehörigen beider Geschlechter sexuell nicht nur Objekte, sondern gleichzeitig handelnde Subjekte sind, und das müssen sie in angemessener Weise zeigen dürfen. Doch Spannungen, die sich ergeben, wenn diesbezüglich Subjekt und Objekt nicht übereinkommen, können auf Dauer nur dann friedlich beigelegt werden, wenn gesamtgesellschaftlich klar ist, dass die Andere oder der Andere in erster Linie Mitmensch ist und bei weitem mehr zu bieten hat als Sexualität.

Der Schlusssatz von G.s mit »Segen« überschriebenem letzten Kapitel lautet: »Wie alle von Menschen gemachten Gesetze steht auch jede menschliche Deutung von Gottes Gesetz unter dem heilsamen eschatologischen Vorbehalt, daß Gott wohl besser als die Gläubigen weiß, was er Mose zu sagen hatte.« (91) Dieser Stachel in unser aller gelegentlich selbstgefälligen Rechthaberei ist in der Tat unerlässlich. Nur wären die Menschen wohl noch heute Kannibalen, wenn nicht gelegentlich der eine oder andere wenigstens in negativer Lesart dem göttlichen Urteil vorgegriffen und darauf bestanden hätte, dass eine ganz bestimmte Auslegung des göttlichen Gesetzes ganz bestimmt nicht gottgewollt ist. Nur von Ferne sei dabei an Luther erinnert. So gesehen darf auch der Ratsvorsitzende der EKD darum bitten, dass sich deutsche muslimische Organisationen von religiösem Terror distanzieren, ohne dass man ihm »moralische Arroganz« (82) unterstellt. G. bezweifelt, dass Bischof Huber dieses Recht hat, weil es nicht die Aufgabe von Kirchenführern sei, zivilreligiöse Glaubensbekenntnisse anzumahnen, und fragt: »Oder werden die evangelischen Bischöfe und Präsides demnächst auch ihren römisch-katholischen Amtsbrüdern eine klare Distanzierung von sehr frommen Jungkatholiken abverlangen, die auf Flugblättern beim Weltjugendtag die Bundesrepublik ob des geltenden Abtreibungsrechtes als ðUnrechtsstaatÐ bezeichneten ...« (83).

Kann man die Mahnung, sich von Terror zu distanzieren, als Aufforderung zu einem »zivilreligiösen Glaubensbekenntnis« bezeichnen? Und wenn ja, ist dieses Bekenntnis dann nicht doch das Grundfundament eines jeden demokratischen Staaates und zugleich unverzichtbarer Teil genuin christlicher Ethik? G. möchte »durch gelassene Liberalität« verhindern, dass der deutsche Staat von seinen muslimischen Mitbürgern als »Kulturkampfstaat« erlebt wird (87). Aber entspricht es gelassener Liberalität, friedlich demonstrierende katholische Abtreibungsgegner mit islamistischem Terror in eine Linie zu stellen? Sind gewaltbereite Terroristen einfach nur auf ähnliche Weise (irrational?) »fromm« wie junge katholische Abtreibungsgegner? Wer so argumentiert, läuft Gefahr, einen innerdeutschen Kulturstreit zu befördern ­ auf Kosten der friedfertigen und intergrationswilligen islamischen deutschen Bürger.

Dennoch: Die Gründe für seine Haltung hat G. erhellend und so klar dargelegt, dass ich trotz der vorgebrachten Anfragen nicht auf diesen zur Diskussion herausfordernden Beitrag verzichten möchte.