Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2006

Spalte:

773–775

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Pfestroff, Christina

Titel/Untertitel:

Der Name des Anderen. Das ðjüdischeÐ Grundmotiv bei Jean-François Lyotard.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2004. 337 S. gr.8° = Studien zu Judentum und Christentum. Kart. Euro 39,00. ISBN 3-506-70127-4.

Rezensent:

Johannes Zachhuber

Die vorliegende Arbeit unternimmt es, ein ðjüdischesÐ Grundmotiv bei Lyotard zu untersuchen. Damit nimmt sie eine Bemerkung auf, die der Philosoph 1995 zur Charakterisierung seines eigenen Denkens gebrauchte. Freilich liegt in dieser Charakterisierung eine Zweideutigkeit; wie aus der Darstellung der Vfn. deutlich wird, versteht sie diese nicht in dem Sinn, dass Lyotards Werk vermeintlich oder tatsächlich durch jüdische Motive religiöser oder theologischer Art geprägt ist. Vielmehr geht es um etwas, was man eher ein Motiv des ðJüdischenÐ nennen möchte, um einen bestimmten Topos, den Lyotard in der Tat immer wieder gebraucht, um ðdas JudentumÐ für bestimmte Erscheinungen und Haltungen in Anspruch zu nehmen. Die hochproblematische Natur eines solchen Verfahrens wird schlagartig deutlich, wenn man z. B. liest, dass Lyotard (in seinen eigenen Worten) »anhand des Namens ðJudeÐ zu erforschen [sucht], wodurch die Vollendung des Abendlandes getrübt und in Trauer versetzt wird« (und zwar notwendigerweise; zit. von der Vfn., 13).

Die Vfn. folgt dieser von Lyotard gelegten Spur so, dass sie sich in einem Querschnitt den von Lyotard an der erwähnten Stelle genannten Werken zuwendet, sie werkhistorisch einordnet und in ihnen das jeweilige Verständnis des ðjüdischen MotivsÐ herausarbeitet. Dabei geht sie von einer (im Wesentlichen in der Forschung konsensuellen) prinzipiellen Dreiteilung der Schaffensphasen Lyotards aus, die ihr die grundlegende Struktur der Darstellung vorgibt. In jeder dieser Phasen habe für Lyotards Diskurskritik ein jeweils besonderer Defekt des abendländischen Rationalismus im Vordergrund gestanden: in einer ersten Phase wurden so Diskurs und Gestalt kontrastiert, in einer zweiten Diskurs und Ereignis, in einer dritten schließlich Diskurs und Affekt. Unter Berücksichtigung des jeweils herrschenden Grundmusters arbeitet die Vfn. in den einschlägigen Schriften jeweils bestimmte Motive oder Topoi heraus, so den Topos des ðjüdischenÐ Bilderverbots, der ðjüdischenÐ Spitzfindigkeit, der Passivität und der Andersartigkeit. Diese sind, wie die Vfn. selbst feststellt, in den meisten Fällen klassische Topoi des Antisemitismus. Lyotard nimmt sie natürlich nicht in diesem Sinn auf; vielmehr versucht er an ðdenÐ Juden, als dem immer ausgeschlossenen Anderen (vgl. den Titel der Studie!) genau das festzumachen, was ­ aus seiner Sicht ­ die abendländische Zivilisation an sich und in sich nie tolerieren konnte. Jedes dieser Motive wird so gewissermaßen zum Spiegel für Lyotards Sündenregister des Abendlandes.

Was immer man von diesem Verfahren halten mag, die Vfn. analysiert es mit großer Umsicht und auf der Basis einer bemerkenswerten Belesenheit. Schon allein das macht die Lektüre der Arbeit äußerst lohnend. Lyotard geht in den von der Vfn. herangezogenen Werken von der Analyse ganz verschiedenartiger Texte aus, an denen er bestimmte Phänomene herausarbeiten möchte. Die Vfn. nimmt diese Herausforderung an, indem sie in jedem Fall diesen Hintergrund mitanalysiert. So findet man unter anderem informierte (Kurz)darstellungen von Freuds Theorie des Judentums, von Lacans Freudkritik, Levinas¹ Religionsphilosophie, Hannah Arendts Konzeption von Natalität (und ihrem Verhältnis zum Judentum) und Kafkas Verständnis des Gesetzes. Dabei ist die Intention stets die, neben die gewissermaßen historische Interpretation dessen, was die jeweiligen Referenzautoren sagen wollten, die Umstände ihrer Rezeption durch Lyotard zu setzen, so z. B. in einem ausgesprochen informativen Abschnitt über die verspätete französische Diskussion um Heideggers nationalsozialistische Verstrickungen nach Erscheinen der Monographie von Victor Farías.

An die Analyse der Topoi schließt sich ein umfangreicher resümmierender Schlussabschnitt an. Zur Ehre der Vfn. muss gesagt werden, dass sie ihre durchweg gute Urteilsfähigkeit auch gegenüber Lyotard selbst beibehält und nicht nur seine Kritiker ausführlich zu Wort kommen lässt, sondern auch selbst ein insgesamt recht kritisches Fazit zieht. Das vermag allerdings nichts daran zu ändern, dass die Vfn. den französischen Philosophen in ihrer Arbeit von einer Seite zeigt, die alles andere als schmeichelhaft ist. Das Werk Lyotards speist sich aus der Grundintention, dass die ðtotaleÐ Herrschaft des Diskurses ein Element von Gewalt gegenüber dem Nichtartikulierbaren (dem Einzelnen, der ðGestaltÐ etc.) enthält. Man wird dieser Intention ihre Berechtigung nicht verweigern, sowenig Lyotard beanspruchen kann, ihr als Erster zur Geltung verholfen zu haben. Es ist jedoch geradezu erschütternd ­ und gleichzeitig nicht ohne eine gewisse Ironie ­, in welcher Form sich diese Grundeinsicht bei Lyotard nicht nur gelegentlich äußert. Das antidiskursive Pathos führt nämlich in der eigenen Praxis zu einem so sorglosen, oft genug nur peinlichen Gebrauch von Generalisierungen, Pauschalisierungen und Klischees, dass man streckenweise fast meinen könnte, die referierten und zitierten Äußerungen seien von einem Verteidiger des klassischen Rationalismus untergeschoben, um die ðpostmoderneÐ Position lächerlich zu machen. Die Vfn. erspart dem Leser hier nichts ­ und das ist wahrscheinlich gut so. Vielmehr referiert sie selbst die erstaunlichsten Thesen mit exemplarischer Gelassenheit ­ etwa wenn Lyotard den vierfachen Schriftsinn zum Markenzeichen der ðjüdischenÐ Offenheit für das Unabgeschlossene von Texten macht ­ im expliziten Gegensatz zum Christentum, das deshalb von vornherein eine Affinität zur Geopolitik und zum Imperialismus habe; sowohl das römische Reich wie der »protestantische« Kapitalismus seien nämlich Inkarnationen jener spirituellen Gemeinschaft, die von Jesus begründet und von Paulus fortgeschrieben worden sei (251 f.).

Angesichts der völlig unkontrollierten Tendenz zum Gebrauch typisierender Schablonen, die hier sichtbar wird, erscheint die Tatsache, dass Lyotard dem Judentum vergleichsweise freundliche Schablonen zudenkt, ein geringer Trost, zumal die Vfn. wieder und wieder darauf hinweist, dass Lyotard für die Berechtigung irgendeines Topos keinerlei Beleg anführt und es auch offenbar keinen Hinweis darauf gibt, dass er versucht haben könnte, sich ein genaueres Bild zu verschaffen. So ist der zentrale Einwand der Vfn. gegenüber Lyotard, dass er nämlich den kritischen Impetus seiner eigenen Theorie nicht auf den Topos des ðJüdischenÐ anwendet (277), vollkommen berechtigt; aus Sicht des Rezensenten könnte man eher fragen, ob er nicht in der Form, wie die Vfn. ihn formuliert, fast zu zahm ist. Klarer jedenfalls ist folgendes Fazit, das sich in einem ca. dreiseitigen Schlussabschnitt findet (283): »Lyotard ist zweifellos durch das ðJüdischeÐ inspiriert, aber sicherlich kein Denker, dessen Arbeiten Ansatzpunkte für genuin theologische Fragestellungen bieten«. Dem ist wenig hinzuzufügen. Vielleicht nur dies: Es ist gut, dass ein solches Buch geschrieben wurde, und man muss der Vfn. für die Art und Weise, in der sie das getan hat, dankbar sein. Es wäre wichtig, dass zumindest Theologen ­ aber vielleicht nicht nur sie ­, die Interesse an Lyotard und seiner Arbeitsweise haben, es möglichst gründlich lesen.